Ruhe Ist Die Erste Buergerpflicht
goß noch immer in Strömen, als sie wieder in die Kutsche stieg und Johann hinten auf. Der arme Mensch! dachte die Geheimräthin. Seltsam, daß es so sein muß! Es musste so sein; über diesen Damm kam sie nicht hinweg, ja sie lächelte über den närrischen Gedanken, daß sie Johann auffordern könnte, sich in den Wagen zu setzen. Aber sie dachte über die Zukunft des Menschen nach. Er litt nicht vom Regen, sondern an einer inneren Krankheit, deren gelegentliche Ausbrüche nur in Fieberanfällen sich zeigten. Sie glaubte etwas von der Arzneikunde zu verstehen und den Schluß ziehen zu dürfen, daß er nie vollständig genesen werde. Was wird nun aus solchem Menschen? Eine Zeitlang hält man es noch mit ihm aus. Wenn er aber immer wieder zurückfällt, muß man ihn entlassen. Dann findet er wohl noch einen Dienst. Aber auf wie lange? Die neuen Herrschaften werden nicht so lange Geduld mit ihm haben. Er wandert ins Krankenhaus, vielleicht ins Spital, vielleicht auf die Gasse. Und wäre es ihm nicht besser, wenn er durch einen Blutsturz, eine radikale Erkältung ein rasches Ende fände? Er ist auch eine verfehlte Existenz!
Sie schauderte und verfiel in ein Sinnen, dem die Ausdrücke fehlten, bis der Wagen vor dem erleuchteten Hause hielt.
Viertes Kapitel.
Hier politisch, dort poetisch.
Der Eintritt der Geheimräthin in die Gesellschaft erregte einen allgemeinen Aufstand; es schien ein froher. Man hatte sie nicht mehr erwartet. Die Wirthin und einige Damen embrassirten sie; die älteren Herren bemühten sich, ihr die Hand zu küssen: »Nein das ist hübsch und liebenswürdig von Ihnen, uns doch noch zu überraschen!« – »Es wäre ein halber verlorener Abend gewesen ohne die Frau Geheimräthin,« sagte der Wirth. Ein Dritter: »Je später der Abend, so schöner die Gäste.« Es war eine ansehnliche, aber etwas bunte Gesellschaft, vielleicht eine, wo die Wirthe auch solche Verwandte und Bekannte gebeten haben, welche sonst sagen konnten: »Zu so etwas werden wir nicht eingeladen!« Die Geheimräthin war von der zuvorkommendsten Freundlichkeit. Man konnte auf den ersten Blick annehmen, daß sie, wenn nicht an Stand und Vermögen, doch von Natur und Bildung von feinerer Art, ein Wesen war, was man so gewöhnlich ein höheres nennt, wenn es in Kreise tritt, die sich ihrer Gewöhnlichkeit bewusst sind. Der Neid, den es hervorruft, zeigt sich in der Regel erst dann, wenn dies vornehme Wesen seine Eigenschaften geltend machen will. Dies war bei der Geheimräthin nicht der Fall. Sie konnte nicht liebenswürdiger, bescheidener, gewissermaßen harmonischer zur Gesellschaft auftreten; sie bedauerte so sehr den Aufstand, den sie erregt.
»Aber warum ist Ihr lieber Mann nicht mitgekommen? Wir sind ihm zwar unendlich verbunden, daß er sich entschlossen, unsere Frau Geheimräthin uns zu gönnen, aber es wäre doch hübsch gewesen, wenn er sich selbst entschlossen. Das hätte erst unsere Freude vollkommen gemacht.«
»Sie thun meinem Manne Unrecht,« entgegnete die Angekommene. »Wenn es nach ihm gegangen, wäre ich längst hier. Er kann es nicht sehen, wenn ich ein Vergnügen seinetwegen entbehre. Aber liebe Frau Geheimräthin,« – die Wirthin nämlich war auch eine Geheimräthin – »Sie glauben nicht, wie er jetzt mit Arbeiten überhäuft ist, und ich sehe mit wahrer Angst, wie er sich dabei anstrengt, daß sein Kopfleiden wieder heraustritt. So machte ich mir ein Gewissen daraus, ihn heut zu verlassen. Aber er hatte keine Ruhe. Wir wollten Piquet spielen; da legte er mit dem freundlichen Blicke, dem man nicht widerstehen kann, die Karten weg, streichelte mir über die Backe und sagte: Liebe Ulrike, ich werde viel mehr Ruhe haben, wenn ich Dich in heiterer, lieber Gesellschaft weiß. Du musst Dich aufheitern nur um meinetwillen. Da kann man denn nicht widerstehen.«
»Man muß gestehen, unsere Frau Geheimräthin Lupinus ist das Muster einer Hausfrau,« sagte der Wirth, »und diese Ehe eine exemplarische. Man wird nicht viele in Berlin so finden.«
»Mit Ausnahme jedoch!« sagte die Geheimräthin Wirthin, und die Geheimräthin Gast schlang sanft den Arm um ihre Schulter: »Ich kenne eine Ausnahme. Was unsere Ehe betrifft, so möchte ich ihr nur darin einen kleinen Vorzug beimessen, daß wir uns so innig verstehen, ohne es auszusprechen. Wir gehen eigentlich Jeder seinen eigenen Weg, was gewiß zu Mißdeutungen Anlaß giebt, aber Jeder fühlt für den Andern mit, er verfolgt ihn still in den Gedanken, Jeder ist
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