Elfenglanz
Eins
T amani drückte die Stirn an die vereiste Fensterscheibe und kämpfte gegen seine Erschöpfung an. An Schlaf war nicht zu denken, solange ihn nur ein dünner Kreis aus Speisesalz von einer wütenden Winterelfe trennte.
An diesem Abend war er gleich in doppelter Hinsicht Fear-gleidhidh.
Normalerweise war er stolz auf diese Bezeichnung, da sie ihn als Laurels Beschützer auswies, der immer und überall auf sie aufpasste. Doch der Titel hatte noch eine tiefere Bedeutung, die über das traditionelle Am Fear-faire hinausging. Fear-gleidhidh bedeutete »Hüter«: Tamani war nicht nur für Laurels Sicherheit verantwortlich, sondern musste gleichzeitig dafür sorgen, dass sie den Auftrag erfüllte, den Avalon ihr in ihrer Kindheit erteilt hatte.
Und jetzt war er auch noch zum Gefängniswärter geworden.
Er warf einen Blick auf seine Gefangene. Yukis Stuhl stand mitten in einem Kreis aus Salzkörnern auf dem zerkratzten Linoleum. Sie schlief, obwohl ihre Hände auf dem Rücken gefesselt waren, mit dem Kopf auf den Knien. Sie wirkte angestrengt. Besiegt.
Harmlos.
»Ich hätte alles für dich aufgegeben.« Sie sprach leise, aber deutlich.
Tamani bemerkte, wie Shar sich versteifte, als ihre Worte das peinliche Schweigen brachen.
Von wegen schlafen. Und harmlos war sie auch nicht, niemals , ermahnte er sich. Die kleine weiße Blüte auf ihrem Rücken, die sie als Winterelfe auswies, war der Beweis. Es war über eine Stunde her, seit David sie an den Stuhl gefesselt hatte – eine Stunde, seit Chelsea die verräterische Blume enthüllt hatte –, doch Tamani hatte sich noch immer nicht an den Anblick gewöhnt. Noch nie im Leben hatte er solche Angst gehabt.
»Ich war zu allem bereit. Deshalb habe ich vor deiner Tür gezögert. Das hast du gewusst, oder?«
Tamani hielt den Mund. Sie hatte recht, er hatte es gewusst. Und einen Augenblick lang war er in Versuchung gewesen, ihr Geständnis anzuhören. Doch das wäre nicht gut gegangen. Letztendlich hätte Yuki entdeckt, dass seine Gefühle geheuchelt waren, und dann wäre er auf Gedeih und Verderb einer wütenden Winterelfe ausgeliefert gewesen. Da war es besser, die Farce rasch zu beenden.
Hoffentlich machte er sich damit nichts vor. Yuki war gefährlich und er sollte keine Schuldgefühle haben, weil er sie belogen hatte, zumal sich jetzt herausgestellt hatte, dass auch sie nicht ehrlich gewesen war. Die Winterelfen hatten die Fähigkeit, pflanzliches Leben aus großer Entfernung zu erspüren. Das bedeutete, Yuki hatte von Anfang an gewusst, dass Tamani ein Elf war. Von Laurel ganz zu schweigen. Die Winterelfe hatte ihr Spielchen mit ihnen getrieben.
Warum fragte er sich dann, ob er das Richtige tat?
»Zusammen wären wir unschlagbar gewesen, Tam«, fuhr Yuki fort. Ihre Stimme war so seidig wie ihr zerknittertes silbernes Kleid, doch der boshafte Unterton ließ Tamani erschauern. »Laurel wird sich nie von ihm trennen, schon gar nicht deinetwegen. Und wenn sie noch so sehr wie eine Elfe aussieht, ist sie innerlich doch ganz und gar Mensch. Ob mit oder ohne David, sie gehört hierher und das weißt du.«
Tamani mied den Blick seines Vorgesetzten und schaute stattdessen aus dem Fenster in die Dunkelheit, als gäbe es dort draußen irgendetwas Interessantes zu sehen. Im Leben der Wachposten ging es nicht zimperlich zu und Tamani und Shar hatten beide mehrfach gesehen, wie der andere bis ans Äußerste gegangen war, um die Heimat zu beschützen. Aber es war immer eine sichtbare Bedrohung gewesen, ein brutaler Angreifer, ein klarer Feind. Orks waren ihre Feinde – so war es immer schon gewesen. Doch Avalon wurde von Winterelfen regiert, und obwohl Yuki sie getäuscht hatte, hatte sie niemandem etwas getan. Deshalb fühlte es sich schlimmer an, sie in Ketten zu legen, als hundert Orks zu töten.
»Du und ich, Tam, wir haben das gleiche Schicksal«, fuhr Yuki fort. »Wir werden von Leuten benutzt, denen egal ist, was wir wollen oder was uns Freude macht. Wir gehören nicht zu ihnen, wir beide gehören zusammen.«
Tamani warf ihr erneut einen zögerlichen Blick zu. Zu seinem Erstaunen sah sie ihn nicht an, während sie redete – sie starrte an ihm vorbei aus dem Fenster, als stünde in den Sternen noch immer eine strahlende Zukunft. Tamani wusste es besser.
»Es gibt keine Tür der Welt, die uns verschlossen bliebe, Tam. Wenn du dich für mich verbürgst, können wir sogar in Frieden nach Avalon gehen. Wir könnten zusammenbleiben und im Palast leben.«
»Woher
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