Ruhelos
aushandeln.« Er deutete mit dem Hut in die andere Richtung. »In der Rue du Cherche-Midi kenne ich ein kleines Lokal. Vorzügliche Fischgerichte. Mögen Sie Austern?«
»Ich hasse Austern.«
Er lächelte nachsichtig wie über ein launisches Kind, aber diesmal waren seine weißen Zähne nicht zu sehen.
»Dann werde ich Ihnen mal zeigen, wie man Austern genießbar macht.«
Das Restaurant hieß Le Tire Bouchon, und Lucas Romer zeigte ihr tatsächlich, wie man Austern genießbar machte (mit Rotweinessig, gehackten Schalotten, schwarzem Pfeffer und Zitronensaft, gefolgt von einem Happen gebutterten Schwarzbrots). Eigentlich aß sie Austern ab und zu ganz gern, aber sie wollte der maßlosen Selbstsicherheit dieses seltsamen Mannes die Spitze abbrechen. Beim Essen (Seezunge bonne femme nach den Austern, Käse, Tarte tatin, eine halbe Flasche Chablis und eine ganze Flasche Morgon) sprachen sie über Kolja. Eva wurde klar, dass Romer über alles, was Kolja betraf, Bescheid wusste – über sein Alter, seine Erziehung, die Flucht der Familie aus Russland nach der Revolution von 1917, den Tod der Mutter in China, über die Irrfahrt der Delektorskis von St. Petersburg über Wladiwostok, Tientsin, Schanghai nach Tokio, bis sie 1924 in Berlin landeten und von dort 1928 schließlich nach Paris weiterzogen. Er wusste auch von der Eheschließung Sergej Pawlowitsch Delektorskis mit der kinderlosen Witwe Irène Argenton im Jahre 1932 und dem bescheidenen finanziellen Aufschwung der Familie dank der von Madame Argenton eingebrachten Mitgift. Er wusste sogar noch mehr, wie sie herausfand, nämlich dass ihr Vater in letzter Zeit Herzprobleme hatte und seine Gesundheit zu wünschen übrig ließ. Wie viel weiß er über mich, fragte sich Eva, wenn er so viel über Kolja weiß?
Er hatte zweimal Kaffee bestellt und für sich einen Schnaps. Aus einem zerbeulten silbernen Etui bot er ihr eine Zigarette an – sie nahm eine, er gab ihr Feuer.
»Sie sprechen ein exzellentes Englisch«, sagte er.
»Ich bin ja auch halb englisch«, erklärte sie, als wüsste er das nicht. »Meine Mutter war Engländerin.«
»Also sprechen Sie Russisch, Englisch und Französisch. Noch etwas?«
»Ein wenig Deutsch. Mäßig, nicht fließend.«
»Gut … Wie geht es übrigens Ihrem Vater?«, fragte er, während er seine Zigarette anzündete und den Rauch mit dramatischer Geste zur Decke blies.
Eva zögerte. Was sollte sie diesem wildfremden Menschen erzählen, der sich wie ein Vertrauter benahm, wie ein Cousin, ein besorgter Onkel, der sich nach der Familie erkundigte? »Es geht ihm nicht gut. Er ist untröstlich – wie wir alle. Dieser Schock – Sie können sich nicht vorstellen … Ich fürchte, Koljas Tod bringt ihn noch um. Meine Stiefmutter macht sich große Sorgen.«
»Ah ja. Kolja hat Ihre Stiefmutter bewundert.«
Eva wusste nur zu gut, dass Koljas Verhältnis zu Irène bestenfalls ein angespanntes gewesen war. Madame Argenton hatte in ihm so etwas wie einen Taugenichts gesehen, einen Träumer der irritierenden Art.
»Der Sohn, den sie nie hatte«, fügte Romer hinzu.
»Hat Ihnen Kolja das erzählt?«, fragte Eva.
»Nein. Ich vermute es.«
Eva drückte ihre Zigarette aus. »Ich werde jetzt besser gehen«, sagte sie und stand auf. Romer lächelte unangenehm. Sie spürte, dass er sich über ihre plötzliche Kälte, ihre Abruptheit freute – als hätte sie irgendeine kleine Prüfung bestanden.
»Haben Sie nicht etwas vergessen?«, sagte er.
»Ich glaube nicht.«
»Ich wollte doch vier Dampfschiffe bei Frellon, Gonzales &
Cie. chartern. Nehmen Sie noch einen Kaffee, und wir besprechen die Details.«
Wieder im Büro, konnte Eva absolut plausibel darlegen, welche Tonnagen, Zeiträume und Zielhäfen Romer im Sinn hatte. Monsieur Frellon zeigte sich hocherfreut über den Ertrag ihrer verlängerten Mittagspause. Romer sei ein »dicker Fisch«, wiederholte er ständig, »den müssen wir an Land ziehen«. Eva fiel auf, dass Romer ihr, obwohl sie zwei- oder dreimal das Gespräch darauf gebracht hatte, nicht erzählt hatte, wann, wo und wie er mit Kolja zusammengetroffen war.
Zwei Tage später, als sie mit der Metro zur Arbeit fuhr, stieg Romer an der Place Clichy in ihren Wagen ein. Er stand ein paar Fahrgäste entfernt und winkte ihr freundlich zu. Eva wusste sofort, dass es kein Zufall war, und glaubte ohnehin nicht, dass der Zufall eine besondere Rolle im Leben Lucas Romers spielte. Am Bahnhof Sèvres-Babylone stiegen sie aus und machten
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