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Ruhelos

Ruhelos

Titel: Ruhelos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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überhaupt russischer Spion geworden?«
    »Das müsste man bei allen fragen. Schau sie dir an: Sie waren alle aus dem Mittelstand, gut gebildet, privilegiert, gehörten zum Establishment.«
    »Aber schau doch, wie Romer gelebt hat – wie die Made im Speck. Geld, Karriere, Macht, Einfluss, schöne Häuser. ›Baron Mansfield of Hampton Cleeve‹ – sogar einen Adelstitel hatte er. Von vorn bis hinten verwöhnt vom britischen Establishment, meinst du nicht auch?«
    Meine Mutter war ebenfalls aufgestanden, lief nun über den Rasen und sammelte Jochens Spielsachen ein. Sie richtete sich auf, ein Plastikschwert in der Hand. »Romer hat mir beigebracht, dass es nur drei Gründe gibt, warum jemand sein Land verrät: Geld, Erpressung und Rache.«
    Sie überreichte mir das Schwert und las eine Wasserpistole, einen Bogen und zwei Pfeile auf.
    »Geld war es nicht«, sagte ich. »Erpressung auch nicht. Also wofür wollte er sich rächen?«
    Wir gingen zusammen zurück ins Cottage.
    »Am Ende läuft es auf etwas sehr Englisches heraus, glaube ich«, sagte sie ernst und nachdenklich. »Bedenke, dass ich erst mit achtundzwanzig hierherkam. Manchmal sieht man in einer fremden Welt Dinge, die die Einheimischen gar nicht wahrnehmen. Bedenke auch, Romer war der erste Engländer, den ich kennenlernte … gut kennenlernte«, fügte sie hinzu, und ich spürte, dass der Schmerz noch immer in ihr lebendig war, von der Erinnerung aufgefrischt wurde. Sie schaute mich an mit ihren hellen, klaren Augen, als würde sie schon mit meinem Widerspruch rechnen. »Und ihn so zu kennen wie ich, mit ihm zu reden, bei ihm zu sein, ihn zu beobachten, hat in mir manchmal den Gedanken geweckt, dass es genauso leicht ist – unter Umständen sogar natürlicher –, dieses Land zu hassen, wie dieses Land zu lieben.« Sie lächelte wehmütig. »Als ich ihn in jener Nacht sah: Lucas Romer, Lord Mansfield mit seinem Bentley, seinem Butler, seinem Haus in Knightsbridge, seinem Club, seinen Verbindungen, seinem Renommee … da dachte ich mir: Das war seine Rache. Er hat alles, was Menschen für erstrebenswert halten: Geld, Ansehen, Lebensstil, Rang – sogar einen Adelstitel. Er war ein Lord, man höre und staune! Und er hat sich ins Fäustchen gelacht. Er hat sie alle ausgelacht. Den ganzen Tag – wenn er von seinem Chauffeur in den Club gefahren wurde, wenn er ins Oberhaus ging, wenn er in seinem Salon in Knightsbridge saß –, immer lachte er.«
    Auf einmal wirkte sie resigniert. »Deshalb wusste ich genau – mit absoluter Sicherheit –, dass er sich noch in der Nacht umbringen würde. Es ist besser zu sterben, solange man geehrt, bewundert, respektiert wird. Gäbe es einen Himmel, würde er auf seine Trauerfeier hinunterblicken und weiterlachen – über all diese Politiker und Würdenträger, die da sein Andenken pflegen. Der gute alte Lucas, der feine Kerl, das Salz der Erde, ein waschechter Gentleman. Du sagst, ich hätte gewonnen – aber Romer hat auch gewonnen.«
    »Bis Rodrigo mit seinem Buch herauskommt. Dann fliegt alles auf.«
    »Darüber müssen wir auch bald mal reden«, sagte sie. »Ich bin gar nicht so glücklich darüber, um die Wahrheit zu sagen.«
    Wir fanden Jochen im Zimmer, er gab ihr seine Zeichnung – von einem Hotel, erklärte er, noch schöner als das Ritz –, und wir verstauten alles im Auto.
    »Ach ja«, sagte ich, »noch etwas, was mich beschäftigt. Es ist vielleicht albern, aber … wie war er eigentlich, mein Onkel Kolja?«
    Sie richtete sich auf. »Onkel Kolja«, wiederholte sie, wie um die unvertraute Bezeichnung auszuprobieren, abzuschmecken, dann sah ich, dass sie Mühe hatte, die Tränen zurückzuhalten. »Er war wundervoll«, sagte sie mit erzwungener Heiterkeit. »Du hättest ihn gemocht.«
    Ich fragte mich, ob es ein Fehler war, ausgerechnet in dieser Situation nach ihm zu fragen, aber meine Neugier war echt. Ich setzte Jochen ins Auto und stieg ein.
    Um ihr ein letztes Mal zuzureden, kurbelte ich die Scheibe herunter. »Es ist alles gut, Sal. Aus und vorbei. Du musst dir keine Sorgen mehr machen.«
    Sie blies uns einen Kuss zu und kehrte ins Haus zurück.
    Wir waren gerade losgefahren, da sagte Jochen: »Ich glaube, ich hab meinen Pulli in der Küche vergessen.« Ich hielt an und stieg aus, ging zurück zur Haustür, stieß sie auf und rief fröhlich: »Ich bin’s nur.« Jochens Pulli lag in der Küche, auf dem Fußboden unter einem Stuhl. Ich hob ihn auf und stellte fest, dass meine Mutter nicht da war. Sie

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