Ruhig Blut!
»Wird es vor der nächsten Ernte regnen?«.
Ein Philosoph hätte diesen Mangel an geistigem Ehrgeiz vielleicht kri-
tisiert, aber nur dann, wenn er ganz sicher sein konnte, woher seine nächste Mahlzeit kam.
Lage und Klima von Lancre hatten praktisch denkende, redliche Leute
hervorgebracht, die in der tiefer gelegenen Welt oft Hervorragendes leis-
teten. Das Königreich hatte der Ebene viele ihrer größten Zauberer und
Hexen gegeben. Der Philosoph hätte viel eicht darüber gestaunt, daß ein
so standhaftes Volk viele erfolgreiche Magier hervorbrachte – aber man
kann eben nur dann Luftschlösser bauen, wenn man festen Boden unter
den Füßen hat.
Und so zogen die Söhne und Töchter von Lancre in die weite Welt
hinaus, arbeiteten, kletterten die verschiedenen Karriereleitern empor
und vergaßen nie, Geld nach Hause zu schicken.
Die daheim bleibenden Freunde und Verwandten bemerkten zwar die
Adresse des Absenders, doch abgesehen davon dachten sie kaum an die
Welt außerhalb von Lancre.
Allerdings dachte die Welt außerhalb von Lancre an sie.
Der große, flache Felsen war jetzt wieder verlassen, doch im Moor wei-
ter unten zitterte das Heidekraut, als sich jemand dem tiefer gelegenen
Land näherte.
»Wir haun alle um!«
»Wir sind die Größten!«
Es gibt viele Arten von Vampiren. Es heißt sogar, es gäbe so viele Vam-
pire wie Krankheiten.* Und es sind nicht nur Menschen (wenn Vampire
überhaupt Menschen sind). Überal in den Spitzhornbergen trifft man
auf den Glauben, daß völ ig harmlos wirkende Werkzeuge, wie zum Bei-
spiel ein Hammer oder eine Säge, Blut fordern, wenn sie mehr als drei
Jahre lang nicht benutzt worden sind. In Ghat glaubt man an vampiri-
sche Wassermelonen, obwohl unklar bleibt, was solche Vampire anstel-
len – vielleicht saugen sie zurück.
Zwei Dinge haben Vampirforscher immer wieder verwundert. Erstens:
Warum verfügen Vampire über solche Macht ? Sie sind doch ganz einfach zu töten. Es gibt Dutzende von Möglichkeiten, Vampire zu erledigen, ganz abgesehen von einem Pflock durchs Herz, was auch bei normalen
* Was vermutlich bedeutet: Einige sind bösartig und gefährlich, andere bewirken, daß man komisch geht und Obst meidet.
Leuten funktioniert – übriggebliebene Pflöcke werden also nicht vergeu-
det. Normalerweise verbringen Vampire den Tag in irgendeinem Sarg,
nur bewacht von einem buckligen Alten, der für gewöhnlich nicht mehr
ganz rüstig ist – es sol te schon einer geringen Anzahl von Leuten gelin-
gen, ihn zu überwältigen. Und doch kann ein Vampir eine ganze Dorf-
gemeinschaft in seinen Bann schlagen…
Und zweitens: Warum sind Vampire immer so dumm? Als wäre es
kein untotsicheres Zeichen, die ganze Zeit über Abendkleidung zu tra-
gen? Warum wohnen sie ausgerechnet in Schlössern, wo es so viele Mög-
lichkeiten gibt, einen Vampir zu besiegen? Zum Beispiel kann man ganz
einfach irgendwelche Vorhänge zerreißen und Schmuckgegenstände von
den Wänden nehmen, um ein religiöses Symbol aus ihnen zu formen.
Und außerdem: Glauben Vampire wirklich, sie könnten jemanden zum
Narren halten, indem sie ihren Namen rückwärts buchstabieren?
Viele Meilen von Lancre entfernt klapperte eine Kutsche durchs Moor.
Sie konnte nicht besonders schwer sein, so wie sie über die Furchen
sprang, aber Dunkelheit kam mit ihr.
Die Pferde waren schwarz, ebenso die Kutsche selbst, abgesehen von
den Wappen an den Türen. Jedes Roß trug eine schwarze Feder zwi-
schen den Ohren, und weitere schwarze Federn waren an den vier Ecken
der Kutsche angebracht. Dadurch wirkte sie wie ein reisender Schatten,
der die Nacht hinter sich herzog.
Am Ende des Moors, wo einige Bäume in den Ruinen eines Gebäudes
wuchsen, hielt die Kutsche knarrend an.
Die Pferde standen still, scharrten gelegentlich mit einem Huf oder
warfen den Kopf von einer Seite zur anderen. Der Kutscher saß nach
vorn gebeugt, hielt die Zügel und wartete.
Vier Gestalten flogen im silbrigen Mondschein dicht über den Wolken.
Ihr Gespräch ließ darauf schließen, daß jemand verärgert war. Eine un-
angenehme Schärfe in der Stimme deutete gar darauf hin, daß »aufge-
bracht« ein besserer Ausdruck gewesen wäre.
»Du hast es entkommen lassen!« Ein jammernder Unterton verriet, daß diese Stimme einer notorischen Nörglerin gehörte.
»Es war verletzt, Lacci.« Diese Stimme klang beschwichtigend und väterlich, brachte aber auch den unterschwelligen Wunsch zum
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