Ruhig Blut!
wußte na-
türlich, daß das Jahr in der Silvesternacht begann, wenn man hoffen
durfte, daß die schlimmste Kälte überstanden war. Doch das neue Jahr begann jetzt, mit grünen Trieben, die sich durch den letzten Schnee nach
oben bohrten. Veränderungen bahnten sich an. Nanny spürte es in den
Knochen.
Ihre Freundin Oma Wetterwachs sagte immer, man dürfe Knochen
nicht trauen, aber so etwas behauptete Oma Wetterwachs dauernd.
Nanny Ogg schloß die Tür. In den kahlen Bäumen, die am Ende des
Gartens wie Gerippe emporragten, plusterte sich etwas auf und zwit-
scherte, als ein Schleier aus Dunkelheit über die Welt strich.
In einer anderen Hütte einige Meilen entfernt wurde die Hexe Agnes
Nitt von einer vertrauten Unschlüssigkeit geplagt, die diesmal ihren neu-
en spitzen Hut betraf. Sie litt häufig unter solchen Konflikten mit sich
selbst.
Während sie ihr Haar zusammensteckte und sich kritisch im Spiegel
betrachtete, sang Agnes ein Lied. Sie sang mehrstimmig. Natürlich nicht
mit ihrem Spiegelbild, denn solche Heldinnen endeten früher oder später dabei, daß sie ein Duett mit Rotkehlchen und anderen Waldbewohnern
sangen, und dann half nur noch der Flammenwerfer.
Agnes sang mehrstimmig mit sich selbst. In letzter Zeit geschah das
immer häufiger, wenn sie sich nicht konzentrierte. Perdita hatte eine
recht durchdringende Stimme, aber sie bestand darauf mitzusingen.
Manche Leute, die zu beiläufiger Gemeinheit neigen, behaupten, im
Innern eines dicken Mädchens befänden sich ein dünnes Mädchen und
viel Schokolade. Agnes’ dünnes Mädchen hieß Perdita.
Manchmal fragte sie sich, wie sie den unsichtbaren Passagier aufge-
nommen hatte. Von ihrer Mutter wußte sie: Als Kind hatte sie Mißge-
schicke und Geheimnisvol es, wie zum Beispiel das Verschwinden einer
Schüssel mit Sahne oder das Zerbrechen eines wertvol en Krugs, oft mit
dem Hinweis erklärt, dafür sei »das andere Mädchen« verantwortlich.
Inzwischen wußte sie, daß man auf solche Ausreden besser verzichtete,
wenn man, trotz allem, etwas Hexerei im Blut hatte. Die imaginäre
Freundin war herangewachsen, ging nicht mehr fort und erwies sich als
Nervensäge.
Agnes mochte Perdita nicht, hielt sie für eitel, selbstsüchtig und bos-
haft. Perdita wiederum verabscheute es, von Agnes herumgetragen zu
werden, die für sie ein dicker, armseliger und wil ensschwacher Klecks
war, über den die Leute einfach hinweggehen würden, wenn er nicht so
steil wäre.
Agnes sagte sich, daß sie den Namen Perdita erfunden hatte, um ihn
mit all jenen Gedanken und Wünschen zu verbinden, für die es in ihr
keinen Platz geben sol te – ein Name für den kleinen Kommentator, der
bei jeder Person auf der Schulter hockt und höhnisch grinst. Aber
manchmal argwöhnte sie, daß Perdita Agnes geschaffen hatte, um etwas
zu haben, auf das sie einschlagen konnte.
Agnes neigte dazu, sich an die Regeln zu halten. Im Gegensatz zu Per-
dita, die es für cool hielt, Beschränkungen keine Beachtung zu schenken.
Agnes glaubte, daß Regeln wie »Fall nicht in diese große Grube mit den
spitzen Pfählen« durchaus einen Sinn hatten. Perdita vertrat die Ansicht
– um nur ein Beispiel zu nennen –, daß Tischmanieren dumm und re-
pressiv waren. Agnes hingegen verabscheute es, von Kohlbrocken ge-
troffen zu werden, die zuvor auf den Tellern anderer Leute gelegen hat-
ten.
Im Hut einer Hexe sah Perdita ein mächtiges Symbol der Autorität.
Agnes meinte, daß ein pummeliges Mädchen keinen hohen Hut tragen
sollte, erst recht keinen schwarzen. Damit wirkte sie, als hätte jemand
eine nach Lakritze schmeckende Eistüte umgekehrt auf sie herabfal en
lassen.
Das Problem war, daß nicht nur Agnes recht hatte, sondern auch Per-
dita. Der spitze Hut bedeutete viel in den Spitzhornbergen. Die Men-
schen sprachen zu ihm und nicht zu der Person, die ihn trug. Wenn die
Leute in ernsten Schwierigkeiten waren, wandten sie sich an eine Hexe.*
Und man mußte auch Schwarz tragen. Perdita mochte schwarze Sa-
chen. Perdita hielt Schwarz für cool. Agnes glaubte, daß sich schwarze
Kleidung kaum für Leute mit einem gewissen Umfang eignete. Außer-
dem war »cool« ihrer Meinung nach ein sehr dummes Wort, das nur Per-
sonen verwendeten, deren Gehirn nicht einmal einen Löffel fül te.
Magrat Knoblauch hatte nie schwarze Sachen getragen und wahr-
scheinlich auch nie in ihrem Leben »cool« gesagt, es sei denn, um die
Temperatur ihrer Umgebung zu
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