Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
fünfziger Jahre errichtet, versucht eine altertümliche Wandleuchte aus Schmiedeeisen an die Vergangenheit anzuknüpfen, aber sie ist einfach nur fehl am Platz. Auf den Balkonen klettern dreckgepuderte Plastikblumen über die Spaliere. In der Nummer 25 wurde der Stuck von der Fassade geschabt und ein blauer Fries aus Fliesen gelegt, wie in einem Badezimmer. Die gesamte Häuserreihe von der 23 bis zur 19 und die gegenüber von der 11 bis zur 7 B wurden zerstört. Die Gebäude sind nicht ersetzt worden. Die Lücken springen einem ins Auge wie fehlende Schneidezähne in einem breiten Lächeln. An der Stelle der Nummern 22 und 23 ein Parkplatz. Dann der «Park», der seinen Namen – wie eine graffitibeschmierte Plakette verkündet – einer obskuren jüdischen Sozialreformerin verdankt, gestorben 1948 in New York,
eine bedeutende Vertreterin der bürgerlichen Frauenbewegung
. Der Stempel der Gleichberechtigung der späten neunziger Jahre ist deutlich zu erkennen. Außer dass er im ganzen Viertel nur «Pennerpark» genannt wird.
Leinenzwang für Hunde! Grillverbot! Ein- und Ausfahrt freihalten! Müll bitte in die Abfallkörbe! Die Ruhezeit von 20 bis 7 Uhr ist einzuhalten! Rauchen und Alkoholkonsum sind nicht gestattet! Diese Verbote am Eingang des Fuß- und Fahrradwegs scheinen einzig angeschlagen zu sein, um den Benutzern die Freude zu gestatten, sich über sie hinwegzusetzen. Die Rutschbahnen und Schaukeln auf dem Spielplatz sind verwaist. Die Mütter des Viertels sind sich einig: Dieser Spielplatz ist eine No-go-Area. Er hat etwas Proletarisches! Er wird von einem zweifelhaften Publikum frequentiert. Und er stinkt nach Pisse! Im Holzhäuschen, wo die unschuldigen Kleinen Kaufmannsladen spielen, soll eine Spritze gefunden worden sein, und ein Krabbler in Oralphase hätte beinahe eine Kippe verschluckt. In einer bereits kühlen Herbstnacht haben drei betrunkene Benutzer im Suff offenbar eine der beiden Bänke abgefackelt, um sich ein wenig zu wärmen. Um die andere Bank herum ragen Bierflaschendeckel und Minifläschchen «Bitter-Kräuterfreunde- 40 %» unter dem Laub hervor. Der Park hat seine Stammgäste: Da ist dieser Mann mit Apostelbart, der mit einem Stock die Mülleimer umrührt und seine Beute in einem Einkaufswagen hortet. Und diese ganz in Schwarz gekleidete Frau, die im Winter im Gebüsch herumstreicht. Ich bin ihr einmal gefolgt, um ihrem geheimen Treiben auf die Spur zu kommen: Sie hängt für die Vögel kleine Beutelchen mit Kernen an die Stauden. Sie hat ihnen sogar ein Häuschen aus einem Schuhkarton gebastelt und es mit einem Klebestreifen vor Regen geschützt. Auf dem Spielplatz unter einer Birke hatte ich vor ein paar Jahren eine erschütternde Begegnung. Ich passte auf die Kinder auf, als sich eine Frau näherte und mir aus heiterem Himmel zu erzählen begann, sie sei bei der Ankunft der Russen vergewaltigt worden. Ein kurzer Moment der geistigen Verwirrung … Dann fasste sie sich wieder und setzte ihren Weg fort, während ich wie versteinert zurückblieb. Ich habe sie nie wiedergesehen.
Verlässt man den «Park», springt einen sofort die Nummer 12 an. Die violetten Neonlichter aus den überdimensionierten Schaufenstern des Luxusküchen-Studios, in dem sich früher ein Antiquariat befand, bestrahlen die Kreuzung nachts so grell, dass man sich in einen funkelnden Lunapark versetzt fühlt. Die 12 ist eines der schönsten Gebäude der Straße, es hat die Bomben überstanden, und ich verüble es dem Botschafter der Dampfgarer und Keramikkochplatten ein wenig, dass er es so entstellt hat.
In den achtziger Jahren sind die Altbauten plötzlich um ein Stockwerk angewachsen. Da sich Berlin auf seiner Insel nicht ausbreiten konnte, ist es in die Höhe gewachsen. Die Holzdachböden wurden zu hellen, luxuriösen Dachwohnungen umgebaut, mit offenem Kamin, Terrakottaterrassen, Oleanderkübeln und großen Glasfenstern. Diese Lofts, wie futuristische Deckel auf Alt-Meißener Porzellanschüsseln gepfropft, ersticken die Vergangenheit der Gebäude endgültig. Ein Fremdkörper, der die Einheit des Ganzen zerstört. Viel schicker und teurer als die normalen Etagenwohnungen. Dort oben, gleich unter dem Himmel, lebte die neue Aristokratie der Gebäude. Das Dachgeschoss markiert den Beginn der Gentrifizierung meiner Straße.
Ich bin in Frankreich in einem Renaissancehaus aus dem Jahr 1586 groß geworden, von dem jeder Voluten- oder Obeliskengiebel, jeder Erker, jeder Portalvorbau, jeder Stein aus
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