Ruht das Licht
mir zeichneten sich hinter dem Dunstschleier ein paar feucht glänzende Kiefernstämme ab, schwarz und schroff. In ein paar Metern Höhe verblichen sie zu Pastellblau und verloren sich schließlich ganz im Weiß des Nebels.
Und ich lag hier im Matsch. Ich spürte, wie er an meinen Schultern klebte und langsam abbröckelte. Als ich die Hand hob, um ihn abzuwischen, sah ich, dass auch meine Finger damit überzogen waren – ein dünnes, lehmartiges Zeug, das mich an Babykacke erinnerte. Meine Hände stanken nach dem See und wie zur Bestätigung hörte ich links von mir das träge Schwappen des Wassers. Ich streckte die Hand aus und fühlte noch mehr Schlamm, dann Wasser an den Fingerspitzen.
Wie war ich hierhergekommen? Ich wusste, dass ich mit dem Rudel unterwegs gewesen war und mich verwandelt hatte, aber ich konnte mich nicht daran erinnern, es zum Seeufer geschafft zu haben. Ich musste mich noch einmal zurückverwandelt haben. Wolf, Mensch, Wolf, Mensch. Diese Logik – oder besser gesagt nicht vorhandene Logik – trieb mich fast in den Wahnsinn. Beck hatte gesagt, das mit den Verwandlungen würde sich mit der Zeit noch einpendeln. Na, bisher konnte man das wohl kaum behaupten.
Ich lag da, meine Muskeln begannen zu zittern, die Kälte biss sich in meine Haut und ich wusste, ich würde mich bald in einen Wolf zurückverwandeln. Verdammt, ich war so müde. Ich hob meine zitternden Hände vors Gesicht und bestaunte die glatte, unversehrte Haut an meinen Unterarmen. Die meisten Narben meines alten Lebens waren wie ausgelöscht. Ich wurde wiedergeboren, im Fünfminutentakt.
Ich hörte eine Bewegung zwischen den nahen Bäumen und drehte den Kopf, die Wange auf dem Waldboden, um zu sehen, ob Gefahr drohte. Nicht weit von mir, halb hinter einem Baum versteckt, stand eine weiße Wölfin und beobachtete mich. Ihr Fell schimmerte rötlich golden in der Morgensonne. Aus grünen Augen sah sie mich eine Weile an, seltsam nachdenklich. Irgendetwas an der Art, wie sie meinen Blick erwiderte, erschien mir ungewöhnlich. Es waren die Augen eines Menschen, aber ohne jede Spur von Wertung, Neid, Mitleid oder Ärger. Nichts als stilles Abwägen.
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte.
»Was glotzt du mich so an?«, knurrte ich.
Lautlos verschwand sie im Nebel.
Mein Körper bäumte sich auf, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, und meine Haut verzerrte sich zu einer anderen Gestalt.
Ich weiß nicht, wie lange ich diesmal ein Wolf blieb. Minuten? Stunden? Tage? Es war später Vormittag. Ich fühlte mich nicht wie ein Mensch, aber ein Wolf war ich auch nicht. Ich hing irgendwo dazwischen und mein Verstand zuckte zwischen Erinnerung und Gegenwart hin und her, beides schien gleichermaßen greifbar.
Mein Bewusstsein schlitterte von meinem siebzehnten Geburtstag direkt zu der Nacht im Club Josephine. In dieser Nacht hatte mein Herz aufgehört zu schlagen. Nicht gerade eine Erinnerung, die ich gern Wiederaufleben lassen wollte.
Das war ich, bevor ich ein Wolf wurde: Ich war Cole St. Clair und ich war NARKOTIKA.
Es war eine dieser Nächte in Toronto, in denen draußen die Pfützen zufroren und man das Gefühl hatte, an seinem eigenen eisigen Atem zu ersticken. Doch in dem Lagerhaus, im Club Josephine, war es schon unten in den Katakomben höllisch heiß. Und oben würde es sogar noch heißer sein.
Krass, was das für Menschenmassen waren.
Das Ganze war ein Riesenevent, dabei hatte ich eigentlich überhaupt keine Lust auf den Gig. Aber das war damals eh so gut wie nie der Fall. Alles verschwamm zu einem gigantischen Gewirr, sodass ich rückblickend nur noch zwischen Gigs, bei denen ich high war, und Gigs, bei denen ich nicht high war, und Gigs, bei denen ich die ganze Zeit aufs Klo musste, unterscheiden konnte. Ich stand auf der Bühne, spielte meine Musik, aber selbst dort jagte ich immer noch irgendetwas hinterher – dem Traum von einem Leben voller Ruhm, den ich mit sechzehn gehabt hatte. Ich gab mir immer weniger Mühe, ihn zu verwirklichen.
Als ich mein Keyboard reintrug, bot uns irgendein Mädchen namens Jackie ein paar Pillen an, die ich noch nicht kannte.
»Cole«, flüsterte sie mir ins Ohr, als würde sie mich kennen und nicht bloß meinen Namen. »Cole, das hier schickt dich auf ’ne Reise, von der du noch nicht mal zu träumen gewagt hast.«
»Baby«, sagte ich und drehte meine Fracht so, dass ich damit nicht an die Wand stieß in diesem engen Labyrinth aus Gängen, das direkt unterhalb der
Weitere Kostenlose Bücher