Ruht das Licht
Wald verschwinden würde.
Ich würde sie verlieren.
Cole rannte zum Fenster und riss es hoch. »Tut mir leid, Fliegengitter«, sagte er und trat es mit dem Fuß aus dem Rahmen. Ich stand einfach nur da. »Sam. Willst du, dass sie sie so finden?« Er rannte wieder zu uns und gemeinsam hoben wir Grace aus dem Bett.
Von der Tür her hörte ich ein Krachen, auf der anderen Seite erhoben sich laute Rufe.
Draußen vor dem Fenster waren es knapp anderthalb Meter bis zum Boden. Es war ein wunderbar klarer, sonniger Morgen, vollkommen gewöhnlich, obwohl er genau das nicht war. Cole sprang als Erster, er fluchte, als er unten in den niedrigen Sträuchern landete, während ich Grace auf der Fensterbank stützte. Mit jedem Augenblick wurde sie weniger Grace in meinen Armen, und als Cole sie runter zu sich auf den Boden hob, begann sie zu würgen.
»Grace«, rief ich und vor meinen Augen drehte sich alles, weil meine Handgelenke mit ihrem Blut verschmiert waren. »Kannst du mich hören?«
Sie nickte und fiel auf die Knie. Ich sprang nach draußen und kauerte mich neben sie; ihre Augen waren riesig und angsterfüllt und mein Herz zerbrach. »Ich werde dich suchen«, sagte ich. »Ich versprech’s dir, ich werde dich suchen. Vergiss mich nicht. Vergiss – vergiss nicht, wer du bist.«
Grace langte nach meiner Hand und griff daneben; sie fing sich gerade noch, bevor sie zu Boden stürzen konnte.
Dann stieß sie einen Schrei aus und das Mädchen, das ich kannte, war verschwunden. Vor mir saß ein Wolf mit braunen Augen.
Ich konnte nicht aufstehen. Ich kniete da, wie erstarrt, und der dunkelgraue Wolf kroch langsam und geduckt weg von mir und Cole. Weg von unserer Menschlichkeit. Ich hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen.
Grace.
»Sam«, sagte Cole. »Ich kann dich hinterherschicken. Wenn du willst, kann ich bei dir auch alles auf null setzen.«
Einen winzigen Augenblick lang konnte ich es sehen. Ich sah, wie ich meine menschliche Gestalt abschüttelte und zum Wolf wurde, ich sah mich im Frühling, wo ich mich vor jedem Luftzug versteckte, hörte die Laute, die ich von mir gab, wenn ich mich verlor. Ich dachte an den Moment, in dem ich begriffen hatte, dass mein letztes Jahr angebrochen war und ich für den Rest meines Lebens in einem anderen Körper gefangen sein würde.
Ich dachte daran, wie ich mitten auf der Straße vor dem Buchladen gestanden hatte, als ich mir meiner Zukunft sicher gewesen war. Ich dachte daran, wie ich die Wölfe hinter dem Haus hatte heulen hören und wie glücklich ich gewesen war, ein Mensch zu sein.
Ich konnte nicht. Grace musste das verstehen. Ich konnte nicht.
»Cole«, sagte ich. »Geh. Gib ihnen nicht noch mehr Gelegenheit, dein Gesicht zu sehen. Bitte –«
Cole führte meinen Satz zu Ende. »Ich bringe sie in den Wald, Sam.«
Langsam kam ich wieder auf die Beine und ging zurück in die Notaufnahme, durch die lautlos aufgleitenden Glastüren, über und über mit dem Blut meiner Freundin beschmiert, und zum ersten Mal in meinem Leben gelang mir eine perfekte Lüge.
»Ich habe versucht, sie aufzuhalten.«
KAPITEL 54
SAM
Heute weiß ich: Ich hätte sie so oder so verloren. Wenn Cole sie nicht wieder angesteckt hätte, hätte ich sie im Krankenhaus verloren. Und jetzt, da Coles Wolfsgift durch ihre Adern fließt, verliere ich sie an den Wald, wie alles, was ich liebe.
Hier bin ich nun und werde beobachtet … von ihren misstrauischen Eltern, die nicht beweisen können, dass ich Grace entführt habe, es aber dennoch glauben … ich beobachte … denn Tom Culpepers Verbitterung wird greifbarer in dieser winzigen Stadt und Grace’ Leiche werde ich nicht begraben … und ich warte … auf die Wärme und Fülle des Sommers, warte, wer aus dem Wald zu mir zurückkommt. Ich warte auf mein Summer Girl.
Irgendwo in ihrem fernen Land lacht Fortuna triumphierend, denn jetzt bin ich der Mensch und werde Grace wieder und wieder verlieren, jeden Winter, jedes Jahr ein Stück mehr, bis ich ein Heilmittel finde. Ein echtes Heilmittel, keinen billigen Trick.
Und das Heilmittel wäre nicht nur für sie. In fünfzehn Jahren werde ich geheilt werden müssen und Cole und Olivia. Und Beck – schlummert unter seinem Wolfspelz noch ein Mensch?
Heute beobachte ich sie wieder, wie ich es immer getan habe. Und sie beobachtet mich, ihre braunen Augen sehen mich aus einem Wolfsgesicht an.
Dies ist die Geschichte eines Jungen, der ein Wolf war, und eines Mädchens, das zu einem wurde.
Ich lasse nicht
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