Rummelplatz
beirren, ließen sich nicht ein auf Sprüche. Andere wußten nicht recht, wer denn nun die stärkere Partei war, sie warteten ab, verhielten sich ruhig, blieben im Hintergrund: Wenn überhaupt, dann würden sie sich erst engagieren, nachdem die Würfel eindeutig gefallen waren. Andere sahen hier und da die sowjetischen Panzer, die standen zwar bloß da, aber das genügte auch. Andere sahen ihre Felle davonschwimmen, sahen, daß sie nirgends die Mehrheit hinter sich bekamen und nicht einmal irgendwo eine kleine haltbare Machtposition, sahen, daß ihr kleiner Krieg verloren war, und einige begriffen, daß er schon verloren gewesen war, noch ehe er begonnen hatte – die machten sich rechtzeitig davon. Nahezu überall im Lande würden die Demonstrierenden am kommenden Tag die Arbeit wieder aufnehmen, in einigen großen Städten waren Tausende auf den Straßen an diesem Tag, die würden am Abend wissen, wenigstens ahnen, daß das, wofür sie auf die Straße gegangen waren, das, was sie gewollt hatten, nichts zu tun hatte mit dem, was dann geschehen war, hier, und anderswo. Übrig blieb ein kleiner, verlorener Haufe, ein zerrissenes Netz von Eingeweihten, ein Trupp Gestrandeter, derlei bleibt immer übrig. Übrig blieb der Sand, auf den sie gebaut hatten …
Aber es muß dieser Tag wohl zu Ende gehen.
Es geht dieser Tag zu Ende.
Inmitten der Eisenbahner, die inmitten der Waggonbauer gehen, inmitten der Chemiearbeiter, der Frauen und Männer, die inmitten der Bauleute gehen, inmitten der Handwerker, die gehn inmitten der Studenten, und einfach Passanten, |615| und solche, von denen man nicht weiß – für eine Stadt wie diese sind es viele. Die kommen auf den großen Platz, kommen von allen Seiten, für Hermann Fischer war dies der bitterste Augenblick: die da kamen, waren Arbeiter. Wieder den falschen Führern nach, und warum, wieder nichts gelernt, und weshalb, wieder dem Anschein gefolgt, nicht der Wahrheit. Denn die sich zu Anführern aufschwingen, die den Aufruhr predigen, den Haß säen, wenige sind es, und Arbeiter sind es nicht: aber sie haben den Augenblick, und – sie haben nichts zu verlieren. So kehren sich die Lehrsätze um. So bleibt nichts Wahres für ewig wahr, nichts Bestehendes beständig. Haben wir es nicht gewußt? Hat da einer einen Punkt gesetzt: bis hierher, und nicht weiter – es darf nicht gedacht werden über ihn hinaus? Da schlängeln sich Rinnsale, ballen sich Haufen, noch ist hier und da Platz auf dem Platz, aber das wogt und drängt nach, das prallt an und verliert sich, und die Reden, die über den Platz gehen, die Schreie, die erinnerlich aufbrechen – aber das ist nicht der Sportpalast, nicht die Stadt der Reichsparteitage, nicht Ermächtigung, und wollt ihr den totalen Krieg – das ist Freiheit, Fahne hoch und Menschenrechte Sieg Heil, das verhallt in den Mauern. Vom Denkmalssockel schweigend schaut der große Tonsetzer, aber der Ettersberg ist weit, auch dort ein Denkmal, ist auch eins zu seinen Füßen, Land der Wahrzeichen, der in Stein gehauenen Vergangenheit, aber wer denkt, daß in ihrem Anblick gedacht würde – da sind nur Klippen in der Brandung. Und die dagegen sind, die nur dastehen? Ach, wir sind oft dagegen gewesen, haben immer nur dagestanden, haben jene begünstigt, die handeln. Sie haben’s uns immer zu danken gewußt. Wir waren immer die Mehrzahl, solange wir so dastanden, und zerfielen, weil wir dastanden, man mußte nur unseren Vortrupp zerschlagen, uns die Richtung nehmen, dann hatten sie uns und mußten uns nicht alle zerschlagen, denn ein richtungsloser Haufen ist unzerschlagbar wie Sand – sie wissen das längst. Das ist das Vokabular des Reichspropagandaministeriums, |616| das da über den Platz hallt, aber es sind Reden von Freiheit und Demokratie, und daß die Bonzen an die Laternen gehißt werden sollen, es hallen Baldur-von-Schirach-Reden über den Platz und ist immer von Deutschland die Rede, von Volk und Freiheit. Die Eisenbahner sind weit abgedrängt, abgedrängt auch Titte Klammergass, Hermann Fischer und Christian Kleinschmidt halten sich in der Nähe des Denkmalssockels, das ist ein fester Ort. Und es fällt eine schwarzweißrote Fahne aus einem Fenster. Und ein Kerl mit den Stirnstoppeln der Zuchthäusler weiß, daß die Knechtschaft gebrochen werden müsse, nieder mit den vollgefressenen Russenknechten, und wir brauchen keinen Staat, wir brauchen Freiheit. Dann fängt einer von den Normen an, von berechtigten Forderungen, aber der ist schon
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