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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Motor an, sie rollten durch die Ausfahrt, die Straße draußen war still. Sie war eine ganze Weile still; Titte Klammergass fuhr sehr langsam, verminderte das Tempo an jeder Ecke, obschon sie Vorfahrt hatten, sah in die Querstraßen hinein – es war nichts zu sehen, es war nichts zu hören, es war eine gestorbene fremde Stadt, und dann verfuhren sie sich und hatten Mühe, zur Hauptstraße zurückzufinden, aber noch immer begegnete ihnen niemand. Und was nur ein paar Straßen weiter geschehen war, vor gar nicht langer Zeit, das hatte hier keine Entsprechung.
    Sie rückten von drei Seiten an, lautlos noch, nahkampferfahren, aber unterwegs schon Marsch der langen Messer, |608| unterwegs schon, aber verhalten noch, dies der Tag X, und die Lieder kennen wir schon: Wir werden weitermarschieren, wenn alles in Scherben fällt; noch ist das Gefängnis nicht in Sicht, Kleine Steinstraße noch nicht, aber der da aus dem Haus tritt, der ist der erste. Der weiß noch nichts, der ist bloß ein Polizeiwachtmeister, eben die Uniform angetan, um zum Streifendienst zu gehen, tritt aus dem Haus und ist plötzlich umringt, mehr erstaunt als erschrocken, bleibt ihm aber keine Zeit: Den zuerst, Polenteschwein, Schlagring an die Schläfe, Stahlrutenhieb, Waffe hat der keine, kriegen sie ja auf dem Revier erst bei Dienstantritt, dürfen sie ja nicht mit nach Hause nehmen, Uniform runter, Fußtritt, Knüppelhieb, guck mal, wie der sich bescheißt, wie dem die Suppe läuft, ein junges Volk steht auf, zum Sturm bereit: Schmeißt die Drecksau in den Hausflur. Das zieht nun weiter, das hat nun Blut geleckt, dem geht aus dem Weg, wer kann, das trifft auf den zweiten Haufen, Steinstraße nun, und so war’s ja gedacht, und vorn rückt an der dritte Stoß, dekoriert mit Heldentum: Da ist das Tor, da ist der Posten, der liegt am Boden, über ihn hinweg geht’s, erklimmt Mauern, sprengt Schlösser, das schlägt zu und zieht Messer aus Ärmeln, das schwingt sich auf Sockel und heizt an, dem wird kein Revolver entgegengehalten von der Wachmannschaft, und dennoch fällt der erste Schuß, und wen befreit das? Ein paar Banaldelikte, ein paar, die wären ohnedies freigelassen worden, ein paar, das schon, das befreit nun die Kommandeuse von Ravensbrück, befreit Kindesmörderinnen, Sittlichkeitsverbrecher, Bräute von Bandenführern, zieht weiter, Einbrecher und Messerstecher befreien, Totschläger: Macht das Tor auf, Freiheit! Und endlich ist es soweit, endlich werden wir die geliebte SS-Uniform wieder anziehen, das johlt durch die Straßen, legt Brände, nimmt die Feuerwehr unter Beschuß, das dringt in Gebäude ein und zerstört, trampelt in Gesichter, plündert, das schlägt nieder, was sich entgegenstellt, in die Betriebe nun, da noch die Schornsteine rauchen, das redet aber nur, |609| wo die anderen stärker sind, gegen Übermacht verlegt sich das auf Aufrufe und Drohungen, wird manchmal davongejagt, dann plündert’s weiter, rächt sich abseits, bricht in Verkaufsstellen ein, zertrümmert Fenster, zerstört, knüppelt nieder: Deutschland, Deutschland über alles – Deutschland, aber wo liegt es, ich weiß das Land nicht zu finden …
    Das sahen sie nicht, noch nicht. Und es wird nicht dunkel in dieser Nacht, die Steine schreien nicht, die schrien noch nie.
    Der große Platz.
    Keine Straße, die so auf ihn trifft, daß er überschaubar wäre. In Windungen nähern sie sich, engen Kurven und Vorsprüngen, da paradieren Jahrhunderte, da schaut nichts herab, da steht nichts auf: So fuhren sie, eingezwängt in Fassaden, Giebel, Fensterreihen, längst die Stille nicht mehr, aber das Wort ist geduldig – Passanten, und solche, die stehen, und solche, die Steine schleudern, und solche, die zusehen, da ist keine Umkehr möglich und kein Ausweichen, und solche, die anführen, und solche, die folgen, das ballt sich zu Haufen, und immer dichter wird’s: Das sind also friedliche Demonstranten. Der Studebaker mißt zweimeterzwanzig in der Breite. Wie sie ziehen, wie sie in Gleichschritt fallen, wenn nur einer anfängt, wie sie die Straße einnehmen, wie sie immer zäher weichen, wie sie verharren, wie sie sich formieren. Der Studebaker fährt im Gleichschritt mit. Aber die nicht nur so gehen, aber die einreden auf die anderen, die ihnen zu stumm sind, aber die nicht den Arbeitern gleichen.
    Schluß, sagt Titte Klammergass.
    Ja, sagt Hermann Fischer.
    Und stieg aus. Sagte ihnen: Zusammenbleiben, Wagen abschließen, sehn wir mal, wie das aussieht da vorn. Denn

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