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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Möwen ein und kleckste weiße Pünktchen in die Ruinen. Die Möwen tauchten unter den Mauervorsprüngen zum Fluß hinab, der Präsident hörte ihre kleinen, schrillen Schreie. Früher hatte er ihrem Flug gern zugeschaut, auch in Moskau hatte er sie manchmal beobachtet, hatte ihnen Brotkrumen zugeworfen, die sie im Flug fingen. Als er die Augen wieder hinab in die Straße senkte, sah er, daß Otto Grotewohl seinem Blick gefolgt war. Einen Augenblick sahen sie sich an. Der Präsident und der Ministerpräsident lächelten.
     
    Nickel trieb im Strom der Demonstranten langsam die Straße hinab, er hatte die Hände tief in die Taschen seiner Joppe vergraben, sie war aus einer braunen Pferdedecke schlecht und recht zusammengenäht. Die Mutter hatte beim Zuschneiden zu spät an die großen roten Karos gedacht, nun stießen sie an den Seitennähten kreuz und quer aufeinander.
    Die Luft war kalt und feucht, sie kroch in die Hosenbeine, strich an den Waden aufwärts; aber jetzt, im langen, dichten Zug der Kolonnen, wurden die Knie langsam wieder wärmer. Nickels Hose war aus sehr dünnem Stoff, aber sie war von der seltenen Qualität, in der sich eine Bügelfalte hielt. Und überhaupt waren zwei Hosen viel für einen, den die Nazis |691| vierundvierzig mit seinen siebzehn Lenzen noch in den feldgrauen Rock gesteckt hatten und der im Sommer fünfundvierzig, als die sowjetische Kriegsgefangeneninspektion ihn nach Hause schickte – ihm waren beim Minenentschärfen zwei Finger der linken Hand abgerissen worden –, außer einer ungeschickt gekritzelten Kreideschrift auf einem Mauerrest nichts mehr von der elterlichen Wohnung fand. Auf dem Mauerrest hatte gestanden: Wohne jetzt in der Laube, Kolonie Siedlerglück, Martha Nickel.
    Nickel ging allein. Er war in eine Gruppe Demonstranten geraten, von denen er keinen kannte. Es waren Arbeiter, das sah er, und daß sie aus der Metallbranche waren, konnte er ihren Gesprächen entnehmen … Das Mädchen, das neben ihm ging, trug ein kleines versilbertes Kreuzchen am Revers ihres Mantels. Sie war recht hübsch, ganz und gar nicht pummlig. Aber man brauchte doch nur in die Gesichter ringsum zu sehen, um zu wissen, daß es keinen Gott gab. – Und Mutter? Woher nahm sie die demütige Beharrlichkeit, an etwas zu glauben, das ihr ganzes schweres Leben lang versagt hatte?
    Vor ihm trugen zwei junge Leute im blauen Hemd der FDJ ein großes Stalinporträt. Auf dem dünnen Stoff war auch von hinten jede Einzelheit zu erkennen; Stalins Gesicht wippte lächelnd über dem hochgeschlossenen grauen Uniformrock.
    Nickel erinnerte sich, daß er vor wenigen Wochen noch in seiner Seminargruppe dafür agitiert hatte, täglich fünfhundert Seiten zu lesen, wie Stalin das tat. Zwar wußte er nicht, wie das nach sechs Stunden Vorlesung und vier Stunden Seminar noch zu schaffen wäre – er hatte es wieder und wieder versucht und immer erfolglos –, aber schließlich schaffte es Stalin, so stand in der Zeitung, also konnte es nur daran liegen, daß sie noch nicht die richtige Methode gefunden hatten. Einige Drückeberger hatten versucht, das alles ins Lächerliche zu ziehen, na, denen hatten sie den Standpunkt gründlich klargemacht. Am wahrscheinlichsten war noch die |692| These, die der FDJ-Sekretär verteidigte: Stalin las wahrscheinlich diagonal, er hatte eben den Blick dafür, auf jeder Seite sofort das Wesentliche zu erkennen. Aber auch mit dieser Methode war Nickel über zweihundert Seiten nicht hinausgekommen. Und im Seminar hatte sich gezeigt, daß ihm dabei die wichtigsten Zusammenhänge entgangen waren. – Nun ja, das alles lag hinter ihm, die letzte Klausur war geschrieben, die Abschlußprüfung bestanden, wenn auch nur mit einer schwachen Zwei, wie der Schulleiter augenzwinkernd gesagt hatte. Nickel war es zufrieden.
    Leicht war es nicht gewesen. Damals, nach seiner Heimkehr aus dem Durchgangslager, in welchem der Todesmarsch der Kinderarmee des Generals Wenck für die wenigen Überlebenden geendet war, hatte er Abend für Abend draußen im Laubengrundstück am Bahndamm gehockt, jedes Hälmchen Unkraut aus den paar Metern Boden gezupft und die mageren Kartoffelstauden gezählt. Das Grundstück lag in einer Bodensenke, in der sich aller Nebel der Mark Brandenburg zu sammeln schien. Es war, als lebe man unter einem feuchten Umschlag. Tagsüber war er Trümmer räumen gegangen, dafür gab es die Schwerarbeiterkarte. Sie reichte nicht hin, den ausgemergelten Körper wieder zu Kräften kommen zu

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