Heidenmauer
Bad Schachen
Auf dem Laub der Bäume lag eine erste Ahnung von zartem Gelb, indessen ein weicher milchiger Schleier über dem See ruhte und den Horizont verhüllte. Aus dem Nichts über dem Wasser rollte das ferne Grollen großer Schiffsmotoren, und von der Insel her drang der einsame Stundenschlag der Glocken von St. Stephan. Leo Korsch saß auf einem der schmalen Stühle draußen am Balkon und starrte in die Unendlichkeit. Zwischen den Blättern der Platanen, Buchen und denen des jungen Ginkgos, der gleich am Ufer stand, erschienen die Umrisse der Insel wie aus einem Märchenbuch.
Den rechten Rand bildete der Pulverturm, von dem aus eine imaginäre Linie entlang der ineinander verwobenen Dächer und Mauern dem Festland entgegen mäanderte – immer wieder unterbrochen von Türmen, Fahnenmasten und Giebelspitzen. Es hätte wirklich die Imagination aus einem Märchen sein können, wäre die Kühle dieses Sonntagmorgens nicht allzu spürbar an den Beinen emporgekrochen.
Am Bahndamm rangierte ein Zug. Aus der Ferne sahen die Waggons aus, als gehörten sie zu einer Spielzeugeisenbahn. In einzelnen Abteilen der Waggons war Licht auszumachen, und das Brummen der Dieselloks vernahm man nur, wenn man das Gehör darauf ausrichtete. Leo Korsch lachte ohne äußere Regung über diese Entdeckung und dachte, dass es so wäre wie mit allem: Man hört und sieht nur, was man möchte.
Er blieb noch eine Weile sitzen, bis die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne einen farbigen Glanz in den Dunst warfen. Bald würde die Heiligkeit dieses Augenblicks verschwunden sein.
Er legte die Wolldecke beiseite, die auf seinen Knien lag. In seinem Rücken hörte er Schritte und fühlte bald darauf die warmen Hände seiner Frau auf der Schulter. Sie blieb schweigend hinter dem Stuhl stehen, und für einige Sekunden genossen beide den Blick auf das stumme Schauspiel jenseits der Brüstung des Balkons. Dann stand er auf, und sie gaben sich der wohligen Gediegenheit des Frühstückssaals hin.
Einige Tische waren schon besetzt. Die ältere Dame in Begleitung ihrer erwartungsvollen Erben saß wieder am runden Tisch, in der Ecke, direkt an der breiten Fensterfront. Sie hatte dem Fenster und allem, was sich draußen abspielte den Rücken zugekehrt und den Stuhl gewählt, der ihr den Blick in den Saal ermöglichte, was ihr interessanter erschien. Sie lächelte wissend und senkte langsam den Kopf zur Begrüßung. Leo Korsch erwiderte den Gruß, und ohne bisher ein Wort miteinander gewechselt zu haben, das über die erforderlichen Höflichkeiten hinausging, waren diese Blicke wie ein stiller Transfer von Kommunikation.
Ein junges Pärchen saß etwas verloren an einem der Tische vor dem Fenster. Sie tuschelten leise, und was an Lauten in den Raum drang ließ auf eine osteuropäische Sprache schließen. Ein anderes, nur unwesentlich älteres Pärchen, betrat den Raum. Die beiden schritten selbstbewusst in den Raum, grüßten in die Runde und begaben sich zu ihrem Tisch, der sich im Schatten der Wand befand. Beide, wie in den letzten Tagen auch, wieder im den aufmerksamen Beobachtern vertrauten Partnerlook gekleidet: hellblaues Hemd, Pullunder, Baumwollhosen, braune Lederschuhe. Für ein Paar so um die dreißig ein wenig eigenwillig, wie Leo Korsch fand. Nach der Begrüßung galt ihre schweigende Konzentration ausschließlich dem Frühstück.
Er rückte seiner Frau den Stuhl zurecht und holte vom gewaltigen Frühstücksbüffet je ein Croissant, eine Semmel, etwas Butter und Honig. Er trank mehrere Tassen Kaffee und sah schweigend hinaus auf die Fläche des Sees, auf die Bäume und ein gelassen auf den Wellen tanzendes Boot. Der Parkettboden glänzte hell. Schwarze Einlagen teilten und ordneten die Fläche in Quadrate, wodurch einem der Raum noch größer vorkam.
»Du bist aufgeregt«, stellte seine Frau ganz nebenbei und ohne Sorge in der Stimme fest.
Er schüttelte den Kopf. »Nein, nein, das nicht. Es ist eher eine gewisse Neugierde auf das, was dieser Tag wohl bringen wird.«
»Das bin ich auch – neugierig«, antwortete sie und nahm das Croissant. »Ich kenne dieses Gemälde schließlich nur aus Erzählungen.«
Nach dem Frühstück holte er sich die Zeitung und nahm in einem der bequemen Sessel des Salons Platz, Pianoklänge schwangen durch die Halle. In Gedanken summte er mit: a kiss is just a kiss … und dachte, nein, wirklich nicht, sometimes it’s not just a kiss.
Später saß er wieder auf dem Balkon und sah hinüber zur Insel.
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