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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Opernchor. Die Alte ist ihm durchgebrannt, weil er ein bißchen plemplem ist. Und jedes Jahr Weihnachten schreibt sie ihm eine Ansichtskarte aus Wuppertal, dort hat ihr verwitweter Schwager eine Eckkneipe …
    Christian starrte geradeaus.
    Manchmal das Geräusch, mit dem Fadenschein den Rauch ausstieß. »Na?« sagte Fadenschein. »Riechen Sie was?« Er hielt die Zigarette andächtig zwischen den Fingern. »West-Tabak, riecht man gleich, nicht?« Er blies den Rauch herüber und ließ den Gummi um die Blechschachtel schnappen. Er dachte eine Weile nach und kicherte und sagte dann: »Also ich weiß nicht, wenn ich in Ihrem Alter wäre, also ich wüßte schon, wohin ich zu gehen hätte!«
    Sie saßen nun schon über eine Viertelstunde. Noch immer kam niemand.
    Wuppertal, dachte Christian. Da ist der Rhein nicht weit. Und der sagenhafte Onkel Hollenkamp. Und die Tante Luise. Keine Wismut, keine Nachtschicht, keine Hunte täglich und in alle Ewigkeit. Und keine zerschundenen Knochen. Keine Baracke und kein Mehlhorn. Vielleicht ein Studienplatz. Warum ging man nicht wirklich hin, schwarz über die grüne Grenze? Nur, weil man nicht wußte, wie die Leute dort in Wahrheit waren? Weil man Angst hatte, daß man vielleicht dreimal täglich mit einem frommen Dankeschön würde zahlen müssen, und weil sie einen anschauen würden mit jenem Wisse-das-zu-würdigen-Blick? Weil man ihn sich gar nicht vorstellen konnte als Lebewesen: Theo Hollenkamp, Familienkrösus, Haus, zwei Autos, Cousine Irene, gleichaltrig. War das ein Grund? Ein Grund für das hier?
    Er hatte keine Antwort, auch diesmal nicht. Er sah nur immer, daß da etwas im Kreise ging.
    Aber es kamen Geräusche auf. Kamen auf in der Strecke hinten, Klicken von Metall, Schurren von Gummistiefeln, und vorn irgendwo kamen sie auf, setzte der Rhythmus wieder |107| ein, allmählich. Fernes Knattern von Preßlufthämmern, man hört sehr weit untertag, und ein Bohrmeißel, eine Haspel, ein Zug kam vorbei, das konnte die Bunkerstrecke sein, das war weit vorn. Aber hinten, das waren Schritte. Obschon man sehr weit hört untertag, die Luft trägt Geräusche heran, und der Berg trägt sie und bricht sie, da muß man neu hören lernen. Das jedenfalls war nah. Das war zu Christians Abbau hinüber, und zu den Blöcken dreizehn und vierzehn.
    Und es kamen Lichter auf, Grubenlampen, brusthoch und tiefer gehaltene, drei oder vier oder fünf. Wenn sie von dort kamen, war etwas im Gange. Da ist etwas im Gange, wenn sie von dort kommen.
    »Brack«, sagte Fadenschein.
    Brack. – Das war ein Wort, das blieb in der Luft hängen. Eine Menge neuer Wörter lernte man, Glück auf und Vortrieb und karascho und Progressive. Und wenn man Glück hatte oder ein Blauhemd, lernte man drushba. Und wenn man kein Glück hatte, lernte man Brack und dawai-dawai. Was alles russisch war. Aber Brack, das war finster. Das war Ausschuß, Bruch, schlechte Arbeit. Das war manchmal Unfall. Und war manchmal Sabotage.
    »Brack«, sagte Fadenschein.
    Sie kamen nun näher. Drushwili vorneweg, der Reviergeophysiker, dann Hermann Fischer und der Hauer von Block dreizehn und sein Fördermann, und hinten, wie immer, Bierjesus der Magaziner. Drushwili streckte seine Georgiernase voraus und das Machorkapünktchen darunter, die verblichene Uniformbluse mit den geblähten Brusttaschen und den Segeltuchbeutel am Bauch. Fischer ging gebeugt, mürrisch, die Lippen zusammengepreßt. Man hörte sie reden. »Das vierte Mal in diesem Monat«, sagte Drushwili. »Viermal Brack, und immer zweite Schicht.« Er ging aufrecht, war nun heran, sah auf Christian herab und den Saigenreiniger; Fischer sah er nicht an. »Ich werde mit Schachtleiter sprechen«, sagte er düster. »Das sabotasch. Zweimal Zentralüberhau kaputtgeschossen, |108| zweimal auf Erzblock, Sie werden sehen. Und Sie müssen bringen heute zwanzig Kisten Erz und fünf für zweite Schicht!«
    Fischer sagte nichts. Er sah Drushwili an, er wußte: da ist nichts zu machen. In dieser Gegenwart, die sich tags anbiederte und nachts Parolen an die Wände schmierte, Hakenkreuze in die Gänge und Nagaika und Sichel und Stalin damoi. Ein Recht auf Mißtrauen? Ja. Aber kein Recht, nicht zu begreifen, daß mit Brack gerechnet werden mußte! Wenn von sechzig Mann nur vier Bergleute waren, und das übrige Bäcker, Apotheker, Landarbeiter, Berufssoldaten, Beamte, entnazifizierte Nazis, Studienräte, Stubenmaler, Buchhalter, Möbeltischler, Hilfsarbeiter, Abenteurer, Asoziale, Jugendliche, die

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