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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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aufs neue schwer. Leichter hatte man es mit dem Onkel in Leipzig, der Zufall hatte einen in einer kleinen Kunsthandlung die Hogarth-Stiche entdecken lassen. Am schlimmsten aber war es mit Lewin. Was, in aller Welt, konnte man ihm schenken; ja, konnte man überhaupt?
    Irene fuhr durch die Straßen der Altstadt. Bei einem Mann im Eisenbahnermantel bremste sie, erkundigte sich nach dem Weg. Als sie weiterfuhr, geriet sie in ein total zerstörtes Viertel. Hier war sie noch nie gewesen. Höhnisch ragte die leere Fassade eines jener kasernenartigen Häuser, mit denen die Nationalsozialisten ihr kurzes Wohnungsbauprogramm begonnen hatten; der Schnee hing über den Ruinen wie ein zerrissenes Leichentuch. An eine Laterne gekettet, lehnte ein verrostetes Fahrrad.
    Wirklich, die Altstadt war am meisten getroffen worden. Im Herbst des vorletzten Kriegsjahres flogen die Engländer und Amerikaner fast jede Nacht ihre Bombengeschwader nach Deutschland, und sehr oft nahmen sie sich die rheinisch-westfälischen Städte zum Ziel, die Wohnviertel vor allem. Die deutsche Luftabwehr hatte zu diesem Zeitpunkt schon nichts Nennenswertes mehr entgegenzusetzen, die Jagdstaffeln waren dezimiert, es gab kaum noch Flugbenzin. Die neuen amerikanischen Bombertypen konnten Höhen aufsuchen, die für die deutsche Flak nicht mehr erreichbar waren. Warum aber die Bomberverbände in diesem Landstrich bestimmte Industriegegenden nicht anflogen, während sie weiter östlich geradezu eine Spürnase für die Betriebe der Schwerindustrie hatten, begriffen in jenem Winter vierundvierzig zu fünfundvierzig nur wenige. Die meisten hielten es auch durchaus für einen Zufall, für ein blindwütiges Zuschlagen der Kriegsmaschinerie, daß in den allerletzten Kriegswochen schnell noch ein paar Städte dem Erdboden gleichgemacht wurden, die samt und sonders in Ost- und Mitteldeutschland lagen.
    |141| Nun, Gedanken solcher Art machte sich Irene nicht. Sie hatte Mühe, sich im Wirrwarr dieser Straßen zurechtzufinden; oft fehlten die Namensschilder, einige Seitenstraßen waren gesperrt. Als sie endlich das Haus erreichte, das sie suchte, glaubte sie zuerst an einen Irrtum. Das sollte die Redaktion sein? Es war ein schiefes zweistöckiges Gebäude, die obere Etage ausgebrannt, der Putz von den Wänden gefallen, blinde Fenster, muffig und morsch. Im Erdgeschoß hauste eine Haarwassergroßhandlung, es roch nach Seifenlauge. Erst als Irene ausstieg und näher trat, entdeckte sie die winzige Glastafel an der Tür: Zeitbühne, Redaktion und Verlag, I. Stock.
    Sie tastete sich durch den dunklen Hausflur, stieß an Kisten und Ballonflaschen. Nach oben führte eine Wendeltreppe, eiserne Stufen, die Haupttreppe war vermauert. Und es gab nur eine einzige Tür hier oben, daran wieder die winzige Glastafel, darunter halb verdeckt die Reste eines erbaulichen Spruchs. Immerhin war noch zu spüren, daß das Haus einmal bessere Tage gekannt hatte. Irene trat ein.
    Kurz: es war reizend. Was man hier Redaktion nannte, war ein schmales Zimmer, tapeziert mit Titelseiten der Zeitschrift, ein alter Schreibtisch, hinter dem ein ältliches Fräulein saß, an den Wänden aufgestapelte Mappen und Papierstöße. Das ältliche Fräulein zeigte sich informiert. Ohne eine Frage abzuwarten, sagte sie: »Herr Lewin ist drin. Bitte, gehen Sie nur hinein.« Es war freundlich gesagt – und dennoch war Irene beklommen zumute, ein bißchen unheimlich, als stünde sie im Begriff, etwas Unerlaubtes zu tun.
    Es gab also noch ein »drin«, und man gelangte dahin durch eine Schiebetür. Als Irene nach der Tür griff, schrillte ein Telefon; sie schreckte zusammen.
    Lewin kam ihr entgegen. Das zweite Zimmer war größer und auf den ersten Blick behaglicher, allerdings auch dunkler. Ein langer semmelblonder Mensch saß hinter einem Schreibtisch, er streckte Irene die Hand entgegen. Wirklich, |142| er stand nicht auf, hielt ihr im Sitzen die Hand hin, aber das erstaunte sie kaum noch. »Vitzthum«, sagte er und meinte offenbar sich. »Sie bekommen unseren Ehrenstuhl. Darauf hat Dix einmal gesessen.« Und er deutete auf den Drehschemel, den Lewin herbeibrachte.
    Es roch schlecht. Es roch nach abgestandenem Zigarettenrauch, nach Leim, nach irgendwas Muffigem. Dennoch konnte man das Zimmer auch nach eingehender Betrachtung vergleichsweise noch behaglich nennen, nach allem voran Geschauten. Lewin und Vitzthum hatten Kaffeetassen vor sich stehen, sie boten auch ihr eine Tasse an. Die Kanne holte Lewin von einer

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