Rummelplatz
Herrenrunden, die heimgekehrten, gelichtet und neuformiert, hier und da auch schon einer, der nicht draußen war, noch nicht, für diesmal. |147| Löwensenf und Düsselbier, man redet und man meint, man hat wieder seinen Feierabend. Und man hat ein ungeheures Bedürfnis, nachzuholen, was man versäumt glaubt.
Als sie ankamen, waren die anderen schon da: Kaiserling, Caspar Kreutz, Nürnberger mit seinem Bauernburschengesicht und neben ihm, wie immer, Helmut Semmlers hohler, trockener Husten. Nur die Giseking fehlte noch, aber die kam ja meist etwas später. Sie waren der jüngste Tisch, man sah das sofort, nebenan saßen einige Halbglatzen. Das fiel aber nur Irene auf, schließlich war es jeden Sonnabend dasselbe.
Lewin stellte Irene vor. Sie war befangen. In jeder anderen Situation wäre ihr diese Atmosphäre widerlich gewesen, diese Gedrängtheit rotgesichtiger, schwitzender, aufeinander einredender Männer, der Lärm und die stickige Wirtshausluft, der unerklärliche Druck, der auf allem lastete und von der beklemmend niedrigen Decke auszugehen schien. Und in jeder anderen Situation hätte sie den Ursprung ihres Unbehagens in der Umgebung gesucht. So aber suchte sie ihn bei sich. Sie hatte das Gefühl, etwas falsch zu machen, sie fühlte sich unsicher und unkundig, sie wollte in diesem Augenblick wirklich nichts dringlicher als dasein, dabeisein, nicht auffallen.
In Wirklichkeit nahm kaum jemand von ihr Notiz, nicht einmal Kaiserling, der sonst gern auf Kosten anderer einen Witz riß. Daß an den Nebentischen der eine oder andere den Hals verdrehte, war nichts Außergewöhnliches, das konnte sie überall erleben, auf der Straße, im Hörsaal, im Park. Caspar Kreutz war sichtlich von ihr beeindruckt, er schielte immer wieder zu ihr hin, unauffällig, wie er glaubte; er war aber wirklich der letzte, der ihre Verwirrung hätte bemerken können. Semmler schied von vornherein aus, er war mit großen Gedanken beschäftigt. Nürnberger wiederum attackierte ihn, er sah in Vitzthum eine Verstärkung der Semmlerschen Position anrücken und bereitete Argumente vor.
|148| Das Gespräch war also schon in schönstem Gange. Worum ging es? Ja, worum ging es. Es hörte sich an wie ein Für und Wider über einen Dritten, Nicht-Anwesenden, ein ›Er‹, der Nürnberger zufolge etwas höchst Geniales, nach Semmler aber etwas höchst Schreckliches gesagt oder getan haben mußte. Semmler nannte es eine ›hirnverbrannte Blödheit‹. Er schien ein Eiferer zu sein, dieser Semmler, er sah bleich aus und abgezehrt, und das dunkelblaue Zeug, das ihm um die Gelenke schlotterte, machte den Eindruck eines uralten Konfirmandenanzuges. Nürnberger war dagegen die Ruhe selbst, er war die pralle Gesundheit.
Auf dem Tisch lag eine Zeitschrift, stach ab von dem bieder blau-weiß-gewürfelten Tischtuch, »Die Quelle«; der Heftrücken lag neben Nürnbergers Bierglas, der obere Rand an Semmlers Kaffeetasse. Wenn Semmler Kaffee schlürfte oder wenn er an seiner Zigarette sog, wirkte er fast süchtig. Seine Finger waren tabakgefärbt. Irene hatte besessene Raucher nie ausstehen können, genausowenig wie den beinahe krankhaften Fanatismus, der in Semmlers Augen aufglomm, wenn er sprach oder wenn Nürnberger ironisch und unerschütterlich erwiderte. Dennoch fühlte sie eine seltsame Sympathie für diesen Jungen. Er erinnerte sie an irgend etwas Nahes, Erregendes, als gäbe es eine Gemeinsamkeit mit … Sie wußte nicht, daß es Lewin war.
Semmler gestikulierte wild. Die dünnen Arme stießen weit aus den erbärmlich kurzen Jackenärmeln. »Das ist völlige Kapitulation!« schrie er. »Das ist … das ist …« Er fand aber das erlösende Wort nicht.
Nürnberger entgegnete ruhig, Kapitulation oder nicht, es sei die Wahrheit. Und während Semmler sich erneut ereiferte, begann er in der Zeitschrift zu blättern, stoppte Semmlers Redeschwall und sagte: »Hör zu, das sagt er in der Bibliothek.« Und er las vor: »All diese Bände da sind wie Büßer, die dem Leben endgültig den Rücken gekehrt haben. Sie sehen aus, als schämten sie sich, als bereuten sie es, geschrieben |149| worden zu sein … Was für ein Haufen von Hoffnungen, Anmaßungen, von Bienengeduld und Narrenwut! Wie vieler Illusionen, Begierden, Mühen, Plagiate und Zufälle bedurfte es, um diesen finsteren Schatz zertrümmerter Weisheiten, veralteter Entdeckungen, gestorbener Schönheiten und eingefrorener Rasereien zusammenzutragen … Und wie viele von diesen Schmökern da wurden
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