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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Hier wartet ein Kochtopf, ein Wirtschaftsgeld und ein Schlafzimmer. Draußen aber wartet die ganze weite Welt.

|306| XI. Kapitel
    Im Zimmer des Schachtleiters stand der Zigarettenrauch wie eine Nebelwand. Polotnikow war seit achtundvierzig Stunden ohne Unterbrechung auf dem Schacht. Der Dolmetscher hatte den Samowar, den sie in der Reparaturwerkstatt selber zusammengebaut hatten, schon zum vierten Mal angeheizt. Polotnikow stand am Fenster, starrte auf die Halden hinaus, über den Schachthof und den Rest der lächerlichen Ziermauer drüben an der Markscheiderei – das Haus war früher ein Ausflugsrestaurant gewesen. Er stand am Fenster in seiner verblichenen Uniformbluse, rührte im Teeglas, kaute das grobkörnige Brot. Er schien von Zigaretten, Tee, Brot und Wodka wochenlang leben zu können. Die Kiefer mahlten – der Dolmetscher sah dem Schachtleiter von der Seite her zu, sah die breiten Backenknochen, die gefurchte Stirn, das bläulich rasierte Kinn; er gehörte zu denen, die Polotnikow bewunderten.
    Auf dem Schreibtisch lagen Saigerisse ausgebreitet. Ein Netz von farbigen Linien, Markierungen und Zahlen. Bleistifte lagen umher, Winkelmesser, Tabellen, ein Lineal, ein Stechzirkel. Aus einem alten Leitz-Ordner quollen die abgegriffenen Ecken von Abrechnungsbogen und Dekadeberichten. Die Schreibtischplatte vibrierte im Rhythmus der Kolbenstöße unten im Maschinenhaus; vom randvollen Aschenbecher fiel Asche auf die Glasplatte, dann ein zerdrücktes Pappmundstück. Polotnikow schob das letzte Stück Brot in den Mund, wischte sich die Hände an der Hose ab.
    In einem ramponierten Ledersessel an der Schmalseite des Schreibtisches saß Hermann Fischer. Seinen Grubenhelm hatte er neben sich auf den alten hölzernen Blumenständer gelegt, der als Ablage diente. Er rührte ebenfalls in einem |307| Teeglas. Fischer beobachtete in merkwürdig starrer Gespanntheit das große Zuckerstückchen, das sich auf dem Grund des Glases auflöste.
    »Also gut«, sagte Polotnikow. »Ich gebe Ihnen den Schnellstoß. Wen schlagen Sie als Brigadier vor?«
    »Kleinschmidt«, sagte Fischer.
    »Kleinschmidt?« Polotnikow zog die Brauen hoch. »Kenne ich nicht. Na gut, das ist Ihre Sache. Ist er schon lange bei uns?«
    Fischer setzte nun das Teeglas ab und lehnte sich zurück. »Ziemlich ein Jahr. Ich glaube, er wäre der richtige Mann. Nur – er weiß noch nichts davon.«
    Polotnikow zuckte mit den Schultern. »Wie viele sind denn überhaupt bis jetzt einverstanden?«
    »Drei«, sagte Fischer. »Einer davon ist Genosse. Aber er ist leider als Hauer eine Niete.«
    »Eine was?« fragte der Dolmetscher.
    Polotnikow goß aus der Wasserkaraffe, die noch vom Nachttisch des ehemaligen Wirtshausbesitzers stammte, Wodka in die Wassergläser. Dann griff er nach der Schachtel mit Kasbek-Zigaretten, bot an. Der Dolmetscher ließ sein riesiges Feuerzeug schnappen.
    »Nehmen Sie aber nicht überall die Besten weg«, sagte Polotnikow. »Das ist so eine deutsche Unart. Ein Beispiel schaffen, große Propaganda. Mit den Besten ist das keine Kunst. Es orientiert falsch. Eure Erfolgsmelder sehen dann nur noch die leuchtenden Beispiele. Nehmen Sie zwei, drei gute Leute und sonst Durchschnitt.« Er trank, nickte Fischer zu und sagte: »Nu paschalissta. Ende.«
    Fischer trank sein Glas aus. Der Dolmetscher sah mißbilligend herüber. Er war gegen den Wodka – vor allem bei der Arbeit.
    »Hm«, brummte Fischer. »Und was ist mit dem Überkopflader?«
    Der Schachtleiter lächelte. »Kriegen Sie, kriegen Sie.«
    Es war der einzige Überkopflader auf dem Schacht 412.
    |308| Als Fischer gegangen war, schickte Polotnikow auch den Dolmetscher hinaus. Er befahl ihm, drei Stunden zu schlafen und dann mit dem Genossen Bondartschuk, dem Hauptgeologen, einzufahren. Der Dolmetscher sagte »merci«. Er war Lehrer für Deutsch und Französisch an einem Leningrader Dolmetscherinstitut gewesen. Er wußte, daß es zwecklos war, den Schachtleiter daran zu erinnern, daß er selbst den Schlaf nötiger hatte. Polotnikow würde ihn zu Ende sprechen lassen und dann fragen: Bitte, was sagten Sie eben?
    Polotnikow telefonierte mit der Objektleitung. Sein Gesicht zuckte nervös, das Herz pochte schmerzhaft und unregelmäßig – er wußte, er hatte zuviel geraucht. In der Hörmuschel war die dunkle Stimme Alla Borisowas, der Sekretärin des Objektleiters. Auch Alla war Leningraderin. Polotnikow hatte eine uneingestandene Liebe zu dieser Stadt und ihren Bewohnern. Er wußte selbst nicht

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