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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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eigenen Apparat zu festigen, die eigene wirtschaftliche Potenz zu stärken, jawohl mit Gewalt! Sah denn keiner diesen Zusammenhang? Schöngeistige Phrasen, dachte Willi Röttig, und wie zum Teufel haben die bloß ihren Lenin gelesen! Als ob irgendein Staat allein existieren könnte in diesem Jahrhundert. Was sind das für Marxisten, die nicht auch dies sehen, in einer Situation, da ihnen kein dreistündiges Grundsatzreferat gehalten werden kann! |599| Was sind das für Kommunisten, die immer genau wissen, wie es sein müßte, aber nicht dahinterkommen, wie es ist und warum es noch nicht anders ist und was also getan werden muß? Und die nicht begreifen, daß wir Verantwortung auf uns nehmen, auf uns nehmen müssen, auch für Erscheinungen, deren Urheber wir nicht sind? Ja, geht hin, streut euch Asche aufs Haupt; was sind das für Revolutionäre! Und natürlich kann es nicht besser werden, es kann immer nur besser gemacht werden!
    Das dachte er, aber: Berija war nicht durchgekommen! Die sowjetischen Genossen hatten im richtigen Moment durchgegriffen, die Partei war stärker, im Geiste Lenins hatte sie der Revolution eine Schlacht gewonnen, eine Schlacht auch für uns. Ja, dachte er, nimm diese Stunde, da die Zahl der Feinde groß ist und übermächtig würde, wären wir eine einzige Sekunde sorglos, einen Augenblick nur unaufmerksam; nimm diese Situation – und verhindere nicht nur das Blutvergießen, laß nicht nur die Konterrevolution nicht durchkommen, sondern gehe zum Gegenangriff über, schlage dem Feind seine Trümpfe aus der Hand, führe die Revolution voran und bewahre die Welt vor dem Krieg, mache so Geschichte, und deinem Land mach ein besseres Leben möglich und deinem Volk eine Zukunft – aber hoffe nicht auf den Beifall der Pfahlbürger, und auch auf die Einsicht derer hoffe nicht, die Geschichte messen wollen mit der Briefwaage, Politik ansehen für ein freundliches Gesäusel unter Schöngeistern und Klassenkampf für eine Stilübung, die nichts als Fehler erkennen, wo in Wahrheit ein unerbittlicher Kampf ist auf Leben und Tod, mit Siegen und Rückschlägen, und die immer nur dastehen und reden und zusehen und reden und die besten Kartoffeln haben wollen dort, wo sie den Düngergeruch nicht ausstehen konnten …
    Das, dachte Willi Röttig, hoffe nicht!
    Und ging noch immer auf und ab unterm Spruch des alten Gauß, erläuterte, gab Anweisungen, nahm Berichte entgegen, |600| organisierte, koordinierte, warf manchmal einen kurzen Satz auf einen Zettel, konzipierte so nebenbei eine Rede eine Stunde später sprach er bereits über den Betriebsfunk.
    Und die Kumpel?
    Da wäre beispielsweise dieser Spieß. Der kommt von Frühschicht, das trägt sich nur wenig später zu. Sicher ist, daß sich schon alles herumgesprochen hatte, der hatte es aus dieser Quelle, dieser aus jener, und unterschiedlich waren die Reaktionen sehr. Na ja schön, sagte dieser Spieß: Scheißhausparolen. Und stand auf dem Schachthof, passierte die Kabine gemeinsam mit Heidewitzka, der sagte: Ist doch klar, jetzt kommen die Amis, da weißt du ja wohl, was los ist. Brauch ich gerade dich dazu, sagte Spieß. Was der sich so denkt.
    Aber wie sie auf den Gummibahnhof kamen, standen da schon die Schichtbusse, überwältigend vollzählig standen sie da und unerhört lautlos, und vor den Bussen standen die Kumpel, standen in Gruppen, Grüppchen, standen wartend, schweigend, drohend, aufeinander einredend, überschrien einander – jetzt wird abgerechnet, sagte Heidewitzka, jetzt wollen wir den Bonzen mal – aber so ein Nebel ohne Zentrum, da schien alles ungeklärt. Vor den Bussen, die auf die Kumpel vom Rabenberg warteten, standen welche aus ihrem Revier, Gummijacken offen über der Brust, Erzhammer im Gürtel, da sagte einer freundlich: Mach’s Maul zu, Kleiner, kommen bloß Fliegen rein. Aber ein anderer hatte schon ausgeholt, hatte Heidewitzka schon herangelangt, schüttelte ihn schon aus der Wäsche, da war nur noch Spieß dazwischen, der brüllte: Himmelarsch, seid ihr denn übergeschnappt, der quatscht doch bloß dußlig! Das dauerte eine Weile. Aber dann bildeten sie doch eine Gasse, durch die mußte er wohl kommen, Heidewitzka, kam also, kletterte in den Bus, dort saß er nun ganz friedlich. Naja, dachte Spieß, verdient hätte es mancher. Aber so ja nun auch wieder nicht. Und hatten auf einmal Willi Röttigs Stimme in den Lautsprechern, die an |601| Masten über den Platz verteilt waren: Laßt euch nicht provozieren, schützt eure

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