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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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niederkartätscht, ermordet in Leuna und Hettstedt und Mansfeld – das wog zu schwer, um so vergessen zu werden, das war zu teuer bezahlt für solche Umkehr. Er konnte den Lautsprecher nicht mehr ertragen, der in immer besesseneren Tonlagen Streik Streik dröhnte, er drehte ihn ab mit schwerer Handbewegung. Aber er konnte den Widerhall in sich nicht verdrängen: Streik, Uran-Gruben, Erzbergbau. Was mag zu Hause los sein, dachte er. Was ist mit den Unsrigen? Was ist, wenn es wirklich alles wahr wäre …
    Aber das fragten sich viele in diesem Land, an diesem Tag. Und der Wahrheit nahe kamen wenige.
    Und überhaupt ist die Wahrheit ein so endloses Ereignis, daß man sich ihr immer nur nähert, ankommt man nie.

    Tatsächlich aber stießen die Kurz- und Mittelwellen, die aus einer der beiden Städte Berlin kamen, bei ihrem Weg in das |597| bessere Land Deutschland auf ein sehr unterschiedliches Entgegenkommen. Stießen häufig ins Leere, stießen auch auf Widerstand.
    Zum Beispiel Willi Röttig. Stand unterm Spruch des alten Gauß, hatte die Arme angewinkelt in die Hüften gestemmt, sah aus, als höre er nichts von alledem, was ihm da berichtet wurde, als belächle er gar die Aufregung, welche der Ernst der Lage heißt – in Wahrheit entging ihm nichts. Aber er hatte soeben eine Meldung erhalten aus dem benachbarten Steinkohlenrevier: Auf allen Schächten wurde gearbeitet. Er hatte Nachricht von der Mehrzahl der Wismut-Schächte: Es wurde gearbeitet. Und vernahm nun, RIAS habe verkündet den Bergarbeiterstreik im Erzgebirge. Aber ja, sagte Röttig, aber gewiß doch, das möchte denen so passen. Könnt ihr mal sehen, woher die Streikparolen in Wahrheit kommen, das haben wir doch gleich gesagt! Und die Genossen drückten sich gegenseitig die Türklinke in die Hand, die Telefone klingelten, das Hauptquartier arbeitete.
    Die erste Information lag schon eine Weile zurück. Sie war gegeben worden vom Zentralkomitee über Direktverbindung, hatte sofort eine kurze Lagebesprechung ausgelöst, die wichtigsten Aufgaben waren festgelegt worden. Sicherung der Leitung gegen jeden Anschlag, Mobilisierung aller Genossen, Mobilisierung der Arbeiter. Es mußte verhindert werden, daß die RIAS-Parolen noch mehr Verwirrung anrichteten, den Kumpels mußte die Lage erklärt werden, man durfte keine Zeit verlieren. Was ist denn los, sagte Willi Röttig. Habt ihr gedacht, der Klassenkampf findet bloß noch im Saal statt?
    Fehler müssen korrigiert werden im Vormarsch. So stand er da, organisierte, koordinierte, hielt dem ersten Sekretär die Hände frei – wer in Willi Röttigs Zimmer kam, verließ es mit klarem Auftrag. Dabei tat Röttig im Grunde immer das gleiche: Er verwies auf Zusammenhänge. Der Feind war überrascht worden durch die offene Korrektur der Fehler, war nervös geworden, löste eben deshalb die überhasteten |598| Aktionen aus. Immerhin fielen viele Arbeiter darauf herein, mehr wohl, als die Partei angenommen hatte – daraus mußte gelernt werden. Immer auf und ab unterm Spruch des alten Gauß, die Arme angewinkelt und nur manchmal ein wenig erhoben den einen, flache Hand in Brusthöhe, Aufmerksamkeit fordernd für ein besonderes Wort – aber Röttig sprach hier, wie er auch immer auf den großen Kundgebungen sprach, ohne Manuskript und höchstens, daß er ein paar Merkzettelchen lose in der Brusttasche trug, überhörte nichts, ignorierte nichts, wußte, zu wem er sprach und wie also gesagt werden mußte, was zu sagen war: Dieser ist ein Redner, wie das Volk ihn liebt. Wer die Macht hat, sagte Willi Röttig, ist verantwortlich für alles. Er dachte aber: Die Macht, ja, als ob die jemals homogen wäre! Und es war ein gewisser Berija, der die Macht beanspruchte nach Stalins Tod, und welche Macht er besessen hatte zu Stalins Lebzeiten, war nur zu ahnen vorerst – wäre er zur Macht gekommen, er hätte uns preisgegeben, verkauft um ein Entgegenkommen, die Beweise lagen vor. Der hatte längst seine Abgesandten im Spiel, hatte verhandelt mit dem Feind, ja wie denn: das Vaterland der Revolution nicht zuverlässig, die deutschen Genossen abgeschrieben, das Schwert Dserschinskis vergiftet? Und die Parteigänger Berijas im eigenen Land, der Apparat Berijas mächtig bis an die Elbe? Und ein Staat wie der unsrige, eine Wirtschaft, durch Krieg und Spaltung geschwächt, ein Land ohne Friedensvertrag, jung noch und schwach noch, eine Partei, die an sieben Fronten kämpfte – was anderes konnte sie tun in solcher Situation, als den

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