Rummelplatz
ausdrückte. Ja, aber ein paar steckten die Köpfe zusammen, das schon, und hatten ja auch allerhand Ärger loszuwerden, und dieser Nickel sauste durch den Betrieb: Geht an die Arbeit, Kollegen, Ruhe bewahren. Aber als er zu Ruth Fischer kam, als er sah, daß alle Maschinen liefen, sagte er nichts mehr. Sie stand auch da, als hätte das alles nichts zu bedeuten: wie für die Ewigkeit hingestellt. Sie blieb den ganzen Tag im Betrieb, hatte dafür nur einen Satz: Da wo sie war, war der Feind nicht. Und gegen Mittag, als sie einmal auf die Straße sah durch das verstaubte Hallenfenster, sah sie die Kinder aus der Schule kommen, sah sie irgendwie anders kommen als sonst, und begriff erst nach einer Weile, daß kein einziges Kind das blaue Halstuch getragen hatte, das Pionierhalstuch – Lehrer, dachte sie, sind ja wohl vorsichtige Leute. Aber hier war ihr Platz, hier wurde nichts verändert, da fiel auch kein Bild von der Wand, unerklärlich, wie es plötzlich herabgefallen war, da gab es keine Arbeitsunterbrechung und auch keine plötzliche Versammlung war notwendig, mitten in der besten Arbeitszeit, dafür war sie da; der Mensch muß einen Platz haben, wo er hingehört, den muß er auch verteidigen. Aber sie wußten vorerst nur von dem Streik in Berlin, und der kleine Häring sagte: Immer diese verdammten Ickes, immer diese Saupreußen, na hör mal. Und sah zu Nickel hinüber als: Du bist mir auch so einer. Später freilich erfuhren sie auch von den Unruhen in den anderen Städten, beispielsweise in Halle, beispielsweise im Mansfeldischen: Halle, dachte sie, Halle. |604| Diese Unruhe aber merkte ihr keiner an, höchstens der kleine Häring, Nickel jedenfalls bestimmt nicht, der war auf andere Unruhen eingestellt. Immerhin: er war auf dem Posten, er blieb. Stritt sich herum, wurde etwas ruhiger mit der Zeit – und hatte vor lauter Sorge um die Sache keine Zeit, Sorge zu haben um sich selber. Die hatten andere. Ein gewisser Mehlhorn zum Beispiel, der wurde von seiner FDJ-Kreisleitung ausgeschickt, auf einer Kurzversammlung zu sprechen, die Maßnahmen der Regierung zu erklären, und er ging also. Ging um die Ecke, hakte sein FDJ-Abzeichen vom Revers, schraubte sein Parteiabzeichen ab, ward nicht mehr gesehen; solche Helden gab es auch – an diesem und an anderen Tagen. Aber je weiter der Tag fortschritt, um so öfter ging Ruth Fischer hinüber ins FDJ-Zimmer, da stand ein Radioapparat, dort saß immer einer: Was los ist, wie sind die Meldungen? Halle, dachte sie, Halle …
Und Titte Klammergass sagte: So, Chef, was nun.
Die Händel-Stadt Halle, Chemie-Stadt, rote Stadt, wie viele sagen, bekam einiges zu sehen an diesem Tag, das war nicht eben rot, das kann nun kaum noch bestritten werden. Diese Straßen, die eng waren wie gewisse Zeitläufte, die krumm waren und bucklig wie Vorurteile, diese Häuser, darin die Luft stockte und die Vergänglichkeit überdauerte, und die Hinterhöfe, wo die Grashalme nichts von Wiesen wußten und das gestapelte Brennholz nichts mehr vom Wald. Und die Leute, die da gehen, die haltet an, die fragt, was sie sehen. Einen zerfließenden Himmel, und einen Rauch, Schreie darin, Tierlaute, steigt aber nichts auf und sinkt nichts nieder, auch den Wind trefft ihr nicht mehr, der hat seinen Namen verlernt und zieht umher und zieht dorthin, wo kein Irregehn mehr ist, weil es keine Wege mehr gibt, sehn das die Leute? Oder den Weg wenigstens, den die große Chimäre genommen hat bis hierher: ein Wal, ein Wolf, ein Haufen Schutt, ein schwarzer |605| Inselrest, ein Panzerschiff, ein Spinnenpack, Gewölk, ein Rudel Steine – und brach durch Rohr, trieb durch die Lüfte breit, das füllte Wälder schwarz, das wälzte Rauch, das tötete vor-an – und wo den Anfang machen, es treffen wo; wo sitzt dem das Herz? Oder nur aufspringen, niederbrechen, fraglos, immer neu, den Stein wälzen, und er rollt zurück, bis der Berg plattgewalzt ist höchstens, sagt ein Spaßmacher, also nie: Der Weg ist alles, und das Ziel ist nichts? Das fragt die Leute, fragt diese Steine hier, die dunkel sind wie die Vergangenheit – sie sahn auch anderes, das weiß ich.
Keiner da, sagte Titte Klammergass, – keiner – bis auf einen.
Der war aber schon ein alter Mann, der war der Pförtner nicht, denn der war fort, wie der Betriebsschutz fort war, der war ein Lagerarbeiter und geblieben, weil doch einer bleiben müsse, sagte er, also es muß doch einer aufpassen; das wäre also einer von den Unsrigen. Nun ja, sagte Hermann
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