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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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von wem die Verleumdung gekommen war. Aber Paul Vogt wurde im Steinbruch von der SS erschossen. Von den anderen aus der Zwickauer Gegend, die Hermann im Lager traf, wußte keiner etwas.
    Am Leben blieb er wie durch ein Wunder.
    Im Herbst vierundvierzig kam die Nachricht von Annas Tod. Die Angst in ihr hatte auf einmal einen Namen. Tuberkulose. Und die Angst in ihm, die er vor allen verborgen hatte in übermenschlicher Anstrengung, jahrelang, sie brach nun ins Leere und zerbrach etwas in ihm: dieser Tod traf ihn, als er schon wieder zu hoffen begonnen hatte. Und wo Ruth war, und ob sie lebte, das wußte er nicht. Lauter nadelfeine Löcher bohrt der Schmerz. Das Haar ergraut über Nacht. Er wehrte sich nicht mehr.
    Immer wieder hat er sie so vor sich gesehen, damals. Immer wieder, wie er sie das erste Mal gesehen hat. Bei dem großen Grubenunglück, achtundzwanzig, als ihr Vater nicht wiedergekommen war aus dem Schacht. Wie sie vor dem Zechentor stand, inmitten der Frauen, das Kopftuch über der Haarsträhne, die dunkel war, so hatte sie dagestanden, still, schmal, zerbrechlich. Etwas, das man beschützen möchte und behüten sein ganzes Leben lang. Immer wieder sah er sie so …
    Daß er dennoch überstand, hat nichts mehr zu tun mit der Kraft und dem Widerstand, wie sie ein Mann aufbringen kann, allein und aus sich. Damals kämpften die Genossen um seinen Lebenswillen. Das illegale Lagerkomitee beauftragte ihn, eine wichtige Verbindung wiederherzustellen, die abgebrochen war. Das war lebenswichtig für viele; es konnte tödlich sein für diesen einzelnen. Aber die Verantwortung rettete ihm das Leben, der Kampf, die Kraft der Aufgabe …
    Er sah aus dem Fenster. Die Papierfabrik lag nun weit im Tal, der Schornstein unter ihm, links der Hochwald. Schneefall |126| setzte ein. Es war alles so weiß und so weit. Es war alles so lange her.
    Im Mai fünfundvierzig, als er aus dem Lager gekommen war und Ruth gefunden hatte bei Ella Vogt, der Frau des ermordeten Paul Vogt, da hatte er sich geschworen: Jetzt fängt ein anderes Leben an. Und was du Anna schuldig bleiben mußtest, jetzt machst du es gut an dem Kind.
    Aber die Partei sagte: Wir müssen die Kohlenschächte wieder in Gang bringen. Also ging er hin und brachte sie in Gang.
    Ruth war fünfzehn. Sie waren in eine Wohnung gezogen, die einem getürmten Nazi gehört hatte. Es wohnte noch eine Umsiedlerfamilie aus Masuren in der Wohnung, eine uralte Großmutter mit zwei Enkeln, deren Mutter auf der Grube arbeitete und alle vier ernährte, der Mann war vermißt. Die Kinder tobten den ganzen Tag durch die Zimmer, Respekt hatten sie nur vor Hermann. Aber wenn er vom Schacht nach Hause kam, war immer schon alles getan, was zu tun war. Ruth war es gewohnt, für sich selbst zu sorgen und für andere. Sie ging ihre eigenen Wege. Hermann wurde lange Zeit nicht damit fertig. Einmal, da war sie gerade sechzehn, sah er sie im Hausflur mit einem Burschen. Er sagte nichts. Aber als sie einmal amerikanisches Milchpulver und Büchsenfett vom schwarzen Markt brachte, für die Kinder, da rutschte ihm die Hand aus. Seine Tochter und krumme Geschäfte! Damals hatte sie ihn angesehen mit einem Blick, den er bis heute nicht vergessen konnte. Geschlagen worden war sie nie. Der Riß, der damals entstanden war, heilte nur langsam. Hermann hätte sich die Hand abhauen mögen.
    Dann sagte die Partei: Wir brauchen dich im Erzbergbau. Also ging er zur Wismut. Ein Vierteljahr später, als er das Häuschen bekam, ließ er Ruth nachkommen. Er riet ihr, Russisch zu lernen und als Dolmetscherin zu ihnen zu kommen. Ein Kulturhaus wurde eingerichtet, und er riet ihr, eine Schule für Bibliothekare zu besuchen. Die HO-Wismut führte Kurzlehrgänge für Verkaufsstellenleiter durch, und er |127| riet ihr, daran teilzunehmen. Sie sagte zu allem nicht ja und nicht nein. Aber eines Tages sagte sie: Ich fange in der Papierfabrik an.
    Was sie ausgerechnet dort verloren hatte, bei der schweren und schlechtbezahlten Arbeit, das wollte Hermann nicht in den Kopf. Er wußte nur, daß die Papierfabrik noch schlechter mit den Arbeitskräften dran war als die Wismut. Und wo Leute fehlen, wo keiner mehr den nächsthöheren Arbeitsplatz belauert, gerät die ganze uralte Betriebshierarchie durcheinander. Aber war das ein Grund? Obschon er sich’s nicht eingestand und obwohl er sich wehrte: auch Hermann Fischer hatte angefangen, in den Begriffen der Wismut zu denken. Ich bin Bergmann, wer ist mehr, und was gibt es

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