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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Wichtigeres auf der Welt als den Erzbergbau? Dagegen ist alles andere zweitrangig …
    »Na, Chef«, sagte der Fahrer.
    Der Wagen hielt.
    Da stand das Haus, da war der schmale Pfad zur Haustür, ein bißchen vom Neuschnee verweht. Hermann Fischer stieg aus.
    Auf dem Schornstein war kein Rauch. Die Haustür war verschlossen. Hermann suchte den Schlüssel. Hinter sich hörte er den Motor aufbrummen, der Kipper zog weiter den Berg hinan.

    Die Joppe hängte Hermann an einen Haken im Flur. Er spürte den Geruch von frischen Fichtenzweigen. Als er die Wohnküche betrat, sah er den Strauß in der Vase. Er sah auch, daß der Fußboden frisch gescheuert war.
    Eine Weile suchte er nach einer Nachricht, wie Ruth sie manchmal hinterlegte, wenn sie noch eine Besorgung zu machen hatte. Aber er fand nichts.
    Er war auf einmal sehr allein.
    |128| 6.
    Sie stand am Eingang des Speisesaales, dort standen viele: rauchten, redeten, warteten. Drin waren die Tische abgeräumt, das Rednerpult war aufgebaut, der Präsidiumstisch mit rotem Tuch bespannt. Auf der schwarzen Tafel neben der Essenausgabe stand: Donnerstag Erbsen, Freitag Nudeln, Sonnabend 15 Uhr Versammlung.
    Aber es hatte noch nicht angefangen.
    Der vorn verlangte schon zum zweitenmal: »Kollegen, ich bitte euch, Platz zu nehmen.« Ein junger Mann, betontes Hochdeutsch, eine Hand in der Hosentasche. Da aber noch niemand am Präsidiumstisch saß, ließ man sich Zeit. Übrigens: wer war der da eigentlich? Ruth fragte den Maschinenführer Dörner, aber der wußte nichts. Auch Hahner, ihr erster Gehilfe, hatte keine Ahnung.
    Nur der Herr Zebaoth wußte Bescheid. Der Herr Zebaoth hörte nämlich das Gras wachsen, das war bekannt. »Das ist der neue Personalchef«, sagte der Herr Zebaoth. »Nickel heißt er, so ein Icke, könnte mein Enkel sein, wenn’s damals geklappt hätte.«
    Soviel sah auch Ruth: der da war wirklich ein bißchen jung für einen Personalleiter.
    Aber der Saal füllte sich. Ruth setzte sich nach vorn, neben den kleinen Beimler aus dem Labor. Am Präsidiumstisch erschien zuerst der Betriebsleiter Kautsky. Nach ihm der BGL-Vorsitzende, dann kam der FDJ-Sekretär, kam Gewerkschafts-Traugott von der AGL, kam der Oberwerkführer Oswald, kamen noch ein paar, und zuletzt kam der Produktionsleiter Jungandres. Der hängte seinen Spazierstock an die Stuhllehne, und jeder wußte nun: es geht los. Die Zeremonie war immer die gleiche: Das Präsidium wurde eingerahmt von Kautsky, der kam zuerst, und Jungandres, der kam zuletzt. Was dazwischen kam, war austauschbar und nicht so wichtig.
    |129| Und immer sprach zuerst der BGL-Vorsitzende. Jeder kannte den Text. Die gegenwärtige Lage, unsere Werktätigen, die imperialistischen Kriegstreiber.
    Das Wort hat nun der Genosse …
    Der Genosse Kautsky. Er sprach gut. Jeder im Saal wußte, wie es im Betrieb aussah, und jeder fand: der Betriebsleiter nennt die Dinge beim Namen, er beschönigt nichts. Fünf Papiermaschinen gab es im Betrieb, eine davon war fast immer abgestellt. Einmal aus Rohstoffmangel, Zellulose fehlte, Kaolin, Trockenfilze, Ersatzteile. Ein andermal aus Mangel an Arbeitskräften. Die verdienten ohnehin wenig, aber wenn eine Maschine abgestellt werden mußte, verdienten sie noch weniger, Ausfallzeit, Aushilfsarbeiten, Holz entladen und kleine Flickreparaturen, da kündigte der eine, kündigte der andere. Wenn dann die Rohstoffe kamen, fehlten die Arbeiter. Auch Ruth fand: Der Genosse Kautsky sagt es, wie es ist.
    Nickel saß etwas verdeckt von Jungandres, er dachte: Der malt ganz schön schwarz. Natürlich, rosig war die Lage nicht. Sowenig er vorerst wußte von diesem Betrieb – die Fluktuation jedenfalls war beängstigend, das wußte er. Aber wem nützt es, wenn man den Arbeitern Schwierigkeiten predigt? Mitreißen muß man sie. Man muß sie beflügeln für die große Sache.
    Wieder sprach der BGL-Vorsitzende. Nach der Einleitung ließ er die Katze aus dem Sack. Auch das wußte jeder; alle kannten den Sack, und alle kannten die Katze, und immer war es der BGL-Vorsitzende, der sie herauslassen mußte. Zellulose war eingetroffen, Planrückstände mußten aufgeholt werden, Arbeitskräfte fehlten – für jeden Eingeweihten hieß das: Überstunden. Die aber waren ohnehin an der Tagesordnung, auch bei normaler Arbeitswoche. Acht Stunden hat die Schicht, und die Woche hat sechs Arbeitstage, das macht achtundvierzig Stunden. Jeden Sonntag aber, wenn die Maschinen alle abgestellt wurden, mußten die turnusmäßigen

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