Runlandsaga - Wolfzeit
böser Scherz der Götter oder die schlichte Fresssucht eines alten Mannes – Bendíras´ Aufgaben hatten schnellstens auf die Schultern anderer Priester verteilt werden müssen. Was das Räucherwerk anging, so war die Wahl auf Pándaros gefallen, denn er war einer der wenigen, die um die Zutaten und die Zusammensetzung bestimmter Ritualräucherungen wissen durfte.
Während er in der mittäglichen Hitze durch das Gewühl der Hauptstraße zum Alten Markt lief, schoss ihm der Gedanke durch dem Kopf, dass er auf seine hervorgehobene Stellung gerne verzichten würde. Wenn er auch keiner der Hohepriester war, so gehörte er als Bendíras´ Schreiber dennoch zum inneren Kreis der Ordensführung. Es war kein Verdienst, das sich Pándaros hoch anrechnete. Nach einiger Zeit war er einfach in diese Stellung hineingerutscht, vor allem deswegen, weil er im T´lar-Orden aufgewachsen war und zu denen gehörte, die schon im Kindesalter mehrere Sprachen lesen und schreiben konnten. Dabei besaß er, was die Führung der Ordensgeschäfte anging, eigentlich keinen besonderen Ehrgeiz. Was ihn am meisten begeisterte, war das Erforschen alter Schriftrollen und Bücher. Fast seine gesamte freie Zeit verbrachte er in der Schriftensammlung, entweder alleine lesend oder im Gespräch mit Deneb, dem Archivar, vertieft.
Er hätte an diesem Ort ohne weiteres den Rest seines Lebens verbringen können. Die Schriftensammlung des T´lar-Ordens war der größte Hort niedergeschriebenen Wissens in Runland. Dass sie Jahr für Jahr stetig zunahm, lag an einer Verordnung, die schon vor langer Zeit zusammen mit dem Rat von Sol getroffen worden war: Wann immer ein Schiff im Hafen anlegte oder ein Handelszug von Kaufleuten auf seinem Weg durch die Südprovinzen in die Stadt kam, mussten unter den mitgeführten Waren alle Schriftstücke angezeigt werden. Wenn sich darunter Texte fanden, die für die Sammlung des Ordens von Bedeutung waren, so hatten ihre Besitzer sie dem T´lar-Orden zu übergeben, damit dort Abschriften angefertigt werden konnten. Erst danach bekamen sie ihre Schriftstücke wieder zurück. Auf diese Art hatte sich die Anzahl der gehorteten Bücher schnell vermehrt. Eine Schar von Novizen arbeitete unter der Aufsicht des Archivars daran, Abschriften zu erstellen, die Schriftstücke zu vergleichen, um Fehler auszumerzen und die ihnen übergebenen Texte wieder ihren Besitzern zukommen zu lassen.
Diese Welt der Bücher war es, die Pándaros über alles liebte, zusammen mit dem Geruch des Papiers und der Tinte, den leisen kratzenden Geräuschen der Federkiele beim Schreiben und der Aufregung, die er empfand, wenn er ein neues Schriftstück zum Lesen in die Hände bekam.
Am meisten liebte er Bücher über die Geschichte Runlands, besonders die seltenen Schriften aus den Jahrhunderten vor dem Bündnis zwischen den Erstgeborenen und den Menschen gegen den Dämon Nodun, jene Zeit, die in den Erzählungen als »die Alten Tage« bekannt war. Nichts begeisterte ihn mehr, als einen Text zu entziffern, der die Jahre kurz nach der Ankunft seines Volkes in Runland beschrieb, damals, als das Land noch jung und irgendwie größer gewesen war und sich die ersten Reiche der Menschen gebildet hatten. Manchmal fragte er sich, wie seine Vorfahren wohl gelebt hatten. Ob sie zu denen gehört hatten, die das Regenbogental und den Norden Runlands verlassen hatten und mit den Elfen ins Fünfseenland gegangen waren? Oder waren sie ein Teil jener Gruppe gewesen, die sich geweigert hatte, dem Ort ihrer Ankunft in Runland den Rücken zu kehren und das spätere Volk der Wildlandnomaden begründet hatte?
Er wusste so wenig über die Vorfahren seiner Eltern. Die Stammbäume alter Adelsfamilien, die er untersuchte, regten seine Vorstellungskraft an, er forschte ihren Familienzweigen nach, als wären es seine eigenen. Erst am gestrigen Tag hatte er wieder ein Schriftstück in der Hand gehalten, das womöglich ein völlig neues Licht auf die Gründungsgeschichte von Sol werfen würde, eine Schenkungsurkunde von Landbesitz aus der Zeit der ersten Herrscher von T´lar. Wie viel lieber hätte er jetzt die altertümliche Schreibweise dieses Textes genauer in Augenschein genommen, anstatt sich um die Vorbereitung des Vellardinrituals kümmern zu müssen! Aber es half nichts, er war ein Priester des Ordens, und die Arbeit musste nun einmal getan werden.
»Was kann ich Euch heute anbieten, Priester?«
Pándaros zuckte zusammen und blickte auf. Gewöhnlich ließ er sich nicht in
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