Rushdie, Salman
schwang eine
geballte Härte mit, «dann verkümmern die Muskeln und auch der ganze Körper, und
dann ...»
«Nichts
», unterbrach ihn Luka wütend. «Er ruht sich bloß aus, das ist
alles. Er wurde immer langsamer, hat sich bedrückt gefühlt und braucht jetzt
ein bisschen Ruhe. Ein Leben lang hat er sich um uns gekümmert, da musst du
doch zugeben, dass er ein Recht darauf hat, sich eine kleine Pause zu gönnen,
nicht wahr, Tante Oneeta?»
«Ja,
Luka», erwiderte Miss Oneeta. «Bestimmt ist es, wie du sagst, mein Liebling, da
bin ich mir fast sicher.» Doch dabei rollte ihr eine Träne über die Wange.
Dann wurde
alles noch schlimmer.
An jenem
Abend lag Luka wach im Bett und war zu verängstigt und unglücklich, um schlafen
zu können. Bär der Hund lag am Fußende und jaulte und knurrte in seinem
Hundetraum; Hund der Bär lag reglos auf seiner Strohmatte. Nur Luka war
hellwach. Der Nachthimmel vor dem Fenster war nicht mehr klar, sondern von tiefhängenden
Wolken bedeckt, so als runzelte er die Stirn, und in der Ferne grollte Donner,
wie das zornige Brummen eines aufgebrachten Riesen. Plötzlich hörte Luka in
der Nähe Flügel schlagen, und er sprang aus dem Bett, rannte ans Fenster,
steckte den Kopf nach draußen und reckte den Hals, um in den Himmel
hinaufzusehen.
Sieben
Geier flogen zu ihm herab. Diese hässlichen, stinkenden, niederträchtigen
Kreaturen trugen Halskrausen wie europäische Adlige auf alten Gemälden oder
wie Zirkusclowns. Und der größte, hässlichste, stinkendste und
niederträchtigste Geier landete direkt neben Luka auf dem Fensterbrett, als
wären sie alte Freunde, während die übrigen sechs Vögel außer Reichweite vor
dem Fenster schwebten. Bär der Hund wurde wach, rannte zu Luka, knurrte und
fletschte die Zähne; Hund der Bär sprang kaum einen Moment später auf, stellte
sich hinter Luka und sah aus, als wollte er die Geier auf der Stelle in Stücke
reißen. «Wartet», sagte Luka, denn er hatte etwas gesehen, das näher untersucht
werden musste. An der Halskrause des Chefgeiers hing ein kleiner Beutel. Luka
langte danach; der Geier regte sich nicht. In dem Beutel steckte ein
zusammengerolltes Blatt, und auf dem Papier stand eine Nachricht von Captain
Aag.
«Grässliches
schwarzzüngiges Kind», stand da, «widerliches Zauberbalg, hast Du geglaubt,
ich würde tatenlos hinnehmen, was Du mir angetan hast? Hast Du wirklich
gedacht, Du abscheulicher Trickbetrüger, ich könnte Dir nicht mehr schaden als
Du mir? Warst Du wirklich so eingebildet, so blöd, Du kümmerlicher, mickriger
Schwarzredner, dass Du gemeint hast, der einzige Zauberer in der Stadt zu
sein? Wer einen Fluch in die Welt entlässt, ihn aber nicht beherrschen kann, o
Du inkompetenter Zwergenhexer, zu dem kommt er zurück und trifft ihn voll ins
Gesicht. Oder er - was in diesem Fall die Rache noch süßer macht - schmettert
einen Menschen nieder, den Du liebst.»
Obwohl es
eine warme Nacht war, begann Luka zu zittern. Stimmte das? Hatte der
Brandfluch, mit dem er den Zirkusdirektor belegt hatte, einen Schlaffluch gegen
seinen Vater nach sich gezogen? Dann, dachte Luka entsetzt, wäre er ja selbst
am Großen Schlaf schuld. Und nicht einmal die Tatsache, dass Hund der Bär und
Bär der Hund seine Freunde geworden waren, konnte den Verlust seines Vaters wettmachen.
Allerdings hatte er schon vor der Nacht der tanzenden Sterne gemerkt, dass
Raschid langsamer geworden war, also handelte es sich bei dieser Nachricht
womöglich auch nur um eine erbärmliche Lüge. Jedenfalls war Luka fest
entschlossen, den Geierboss nicht merken zu lassen, wie verstört er war,
weshalb er ihm in dem lauten, festen Ton antwortete, mit dem er sonst nur beim
Schultheater sprach: «Ehrlich gesagt, hasse ich Geier, und es überrascht mich
nicht, dass ihr die einzigen Tiere seid, die diesem schmierigen Captain Aag
treu geblieben sind. Überhaupt, was für eine Idee, im Zirkus eine Geiernummer
zu zeigen! Beweist doch nur, was für ein übler Typ dieser Kerl ist. Und dies
hier», setzte Luka noch hinzu, während er das Blatt Papier direkt vor dem
hämisch verzogenen Schnabel des Geiers zerriss, «ist der Brief eines garstigen
Mannes, der so tut, als könnte er meinen Vater krank machen. Dabei kann er
niemandem mehr etwas zuleide tun, und die ganze Welt ist ihn leid.» Mit diesen
Worten nahm Luka seinen ganzen Mut zusammen, verscheuchte den großen Vogel vom
Sims und schloss das Fenster.
Die Geier
flatterten aufgeschreckt davon, und Luka
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