Rushdie Salman
sie eines sein, was ich nie zu
werden vermochte. Ich war eine Prinzessin, sie aber wurde Mutter.
«Der Rest ist ungefähr so gewesen, wie Ihr es Euch gedacht habt», sagte Qara Köz. «Spiegels Tochter war das
Spiegelbild ihrer Mutter und jener Frau, deren Spiegelbild Spiegel gewesen war. Und es hat Tode gegeben, ja.
Die Frau, die jetzt vor Euch steht, die Ihr zum Leben zurückgebracht habt, ging als Erste. Später erzog Spiegel
ihr Kind in dem Glauben, sie sei, wer sie nicht war, die
Frau, die einst die Mutter des Mädchens gespiegelt und
auch geliebt hatte. Das Verwischen der Generationen, der
Verlust der Wörter Vater und Tochter, die Substitution
anderer, inzestuöser Wörter. Ihr Vater, der ihr Mann
wurde. Das Verbrechen wider die Natur ist begangen
worden, doch nicht von mir, und ich habe kein Kind, das
man derart geschändet hat. In Sünde geboren, starb die
Kleine früh, ohne je zu erfahren, wer sie war. Angelica,
ja, Angelica, so lautete ihr Name. Ehe sie starb, schickte
sie ihren Sohn aus, damit er Euch aufspüre und um das
bitte, was er nie hätte fordern dürfen. Am Totenbett blieben die Verbrecher stumm, als Spiegel und Herr aber vor
ihrem Gott standen, wurden sämtliche Taten offenbar.»
Das also war die Wahrheit. Niccolo Vespucci, den man
in dem Glauben erzogen hatte, ein Prinz zu sein, war ein
Kind des Spiegels Kind. Beide aber, er wie seine Mutter,
hatten keinen Anteil an diesem Betrug. Sie waren die
Betrogenen.
Der Herrscher verstummte und dachte über die von ihm
be-gangene Ungerechtigkeit nach, für die er mit dem
Untergang seiner Hauptstadt bestraft worden war. Der
Fluch des Unschuldigen hatte den Schuldigen getroffen.
In Demut neigte er sein Haupt. Qara Köz, Dame
Schwarzauge, die verschwiegene Prinzessin, setzte sich
ihm zu Füßen und strich ihm sanft über die Hand. Die
Nacht entschwand. Ein neuer Tag begann. Die Vergangenheit war bedeutungslos. Es gab nur die Gegenwart -
und ihre Augen. Unter ihrem unwiderstehlichen Blick
verwischten sich die Generationen, sie überblendeten
sich, lösten sich auf. Doch sie war für ihn verboten. Nein,
nein, sie konnte nicht verboten sein. Wie sollte das, was
er für sie empfand, ein Vergehen wider die Natur sein
können? Wer wollte es wagen, dem Herrscher zu verbieten, was sich der Herrscher selbst gestattete? Er war der
Richter über das Gesetz, seine Verkörperung, und in seinem Herzen war keine Sünde.
Er hatte sie von den Toten zurückgeholt und ihr die Freiheit der Lebenden gewährt, hatte sie erlöst, auf dass sie
wählen und gewählt werden konnte, und sie hatte ihn
erwählt. Als wäre das Leben ein Fluss und Menschen die
Trittsteine in seinem Strom, hatte sie die fließenden Jahre
überquert und war zurückgekehrt, um seine Träume zu
füllen, den Platz einer anderen Frau in seiner khayal einzunehmen, in seiner gottgleichen, omnipotenten Phantasie. Vielleicht war er nicht mehr sein eigener Herr. Was,
wenn er ihrer müde wurde? - Nein, er würde ihrer niemals müde werden. - Doch konnte sie überhaupt verbannt
werden? Entschied sie allein, ob sie ging oder blieb?
«Letztlich bin ich also doch noch heimgekehrt», sagte
sie. «Ihr habt es mir erlaubt, und so bin ich hier, am Ende
meiner Reise. Und nun, Schirmherr der Welt, gehöre ich
Euch.»
Bis du nicht mehr bist, dachte der allumfassende Herrscher. Bis du nicht mehr bist, meine Liebe.
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