Russisches Requiem
»Nummer sieben. Sie teilen sich die Wohnung mit Walentina Nikolajewna Kolzowa und ihrer Tochter Natascha - kein schwieriges Kind, zumindest ist sie recht ruhig. Genossin Kolzowas Mann war der Ingenieur, der letztes Jahr bei diesem Metrounfall umgekommen ist. E. N. Kolzow. Erinnern Sie sich an ihn? Einen Helden der Sowjetunion haben sie aus ihm gemacht. Nur weil er in einem Tunnel zermalmt wurde. In Polen war es nicht so leicht, das können Sie mir glauben. Damals waren sie knauserig mit den Orden. Ich habe für meine Heldentaten nur einen Holzarm gekriegt, und selbst auf den musste ich drei Jahre warten.«
Die Tür öffnete sich auf eine große Gemeinschaftsküche, die von der flutenden Herbstsonne in warmes Gelb getaucht wurde. An einer Wand stand ein altes, ziemlich abgewetztes Sofa unter dem Ganzkörperporträt eines Offiziers der Jahrhundertwende in Kavallerieuniform. Unter den großen Fenstern war ein Tisch, auf dem neben Strickzeug ein ordentlicher Stapel Schulbücher lag. Im Vergleich zu Michails Schuhkarton mit Pappwänden war es der reinste Luxus.
»Einer der Vorbesitzer - ein Graf, glaube ich.« Luborow deutete auf das Gemälde. »Wer weiß, wo es ihn hinverschlagen hat. Nach Paris? Ins Grab? Wo er auch ist, es geschieht ihm recht. Jetzt dienen Leute wie er nur noch dazu, die Sprünge in den Wänden zu verdecken. Nun, das ist jedenfalls die Küche. Die teilen Sie sich natürlich mit Bürgerin Kolzowa, die ihr Zimmer hier hat.« Luborow deutete auf einen kleinen Raum neben der Wohnungstür, der mit einem Petroleumkocher und einem Steinbecken ausgestattet war. »Haben Sie einen eigenen Kocher?«
Koroljow nickte.
»Ausgezeichnet, das erleichtert allen das Leben; der hier gehört Walentina Nikolajewna. Ihr Zimmer ist dort drüben.«
Nachdem Luborow verschwunden war, stand Koroljow allein in dem ihm zugewiesenen Raum. Er legte die Mütze auf den Schreibtisch und schaute sich um. Die Vorhänge waren bis auf einen schmalen Lichtstreifen zugezogen, und er schob sie so weit wie nur möglich auseinander, um den Sonnenschein hereinzulassen. Ein gutes Zimmer. Groß, mit hoher Decke und sogar tapeziert. Natürlich war die Tapete ein Relikt aus der Zeit vor dem Weltkrieg, aber immerhin noch in brauchbarem Zustand. Selbst die Matratze auf dem Bett wirkte sauber. Einen Teppich gab es ebenfalls, der einen großen Teil der Holzdielen bedeckte. Er spähte durch das Fenster nach unten auf die Gasse. Schön ruhig, dachte er, gerade als sein Blick auf die Sankt-Nikolaus-Kirche fiel. Die Glocke schlug ein Uhr, und ihm fiel ein, dass er nicht viel Zeit hatte, also wandte er sich wieder dem Zimmer zu, um es genauer zu erkunden.
Zunächst nahm er sich den Schreibtisch vor und hob den Deckel über einem Fach, wo früher wahrscheinlich ein Adeliger sein edles Schreibpapier aufbewahrt hatte, in dem jetzt aber nur eine vergilbte Ausgabe der
Prawda
von 1928 lag. Der Schreibtisch war nicht geeignet. Das Bett ignorierte er gleich, weil es zu naheliegend war, und nach einer raschen Untersuchung verwarf er auch den Schrank. Schließlich schlug er den Teppich zurück und suchte konzentriert den Boden ab, bis sein Blick an einem Spalt zwischen zwei Dielen hängenblieb, der kaum merklich breiter war als die anderen. Die Ränder waren leicht abgewetzt. In seinen Knien knackten die Knorpel, als er sich niederkauerte und sein Taschenmesser herauszog. Er schob es an einem Ende der Diele hinein, und tatsächlich ließ sich das Brett mühelos heraushebeln.
Darunter kam ein kleiner Hohlraum zum Vorschein, in dem eine Fotografie lag. Sie zeigte eine Frau, deren nackte Brüste über einem Korsett hingen und die mit suggestivem Lächeln über die Schulter in die Kamera schaute. Anscheinend war sie dabei, eine Kuh zu melken, die hinter ihr stand. Der Kopf des Tiers war nicht sichtbar, aber das Euter lag prall zwischen ihren Fingern. Offenbar hatte hier schon einmal jemand ein Versteck benötigt. Er deponierte die Diele neben den Hohlraum und stand auf. Unter den anderen Büchern in einem der Leinensäcke fand er seine Bibel, die er nun erleichtert in das Versteck gleiten ließ. Er legte großen Wert darauf, das Buch immer in seiner Nähe zu haben, aber es musste verborgen werden, und er brach in Schweiß aus bei dem Gedanken, dass er es durch die halbe Stadt getragen hatte. Dabei war er im Grunde gar nicht besonders religiös. Er kannte die Parteilinie zum orthodoxen Kult und war damit einverstanden. Allerdings hatte ihn die Bibel in seinem fast
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