Rywig 03 - Meine Träume ziehn nach Süden
ERSTER TEIL
Ein Wunsch wird wach
Wer ich bin, und wer wir sind
Heut früh war ich im Papiergeschäft und habe fünfhundert Blatt Schreibmaschinenpapier gekauft. Dann habe ich Papas Schreibmaschine gemopst, mich in mein Zimmer zurückgezogen und hingesetzt, ganz feierlich, mit Sentas Reisetagebuch und Fotoalbum neben mir.
Zum ersten Mal in meinem Leben werde ich einen ausführlichen Bericht schreiben. Denn mein Herz ist voll Glück, voll herrlicher Eindrücke, voll Sehnsucht und Liebe - kurz gesagt, so voll, daß es platzen wird, wenn ich mir nicht alles von der Seele schreibe. Was ich später mit dem Geschriebenen anfange, weiß ich nicht. Vielleicht werde ich es einmal meinen Kindern vorlesen. Vorläufig habe ich noch keine -, ich bin erst zwanzig Jahre alt und außerdem nicht verheiratet. Noch nicht. Aber ich hoffe sehr, daß ich einmal Kinder kriege. Ich möchte gern viele haben. Hier im Hause sind wir sechs. Es gibt nichts Schöneres, als Geschwister zu haben, mit denen man sich gut versteht. Und natürlich Eltern, die man liebt.
Ich habe das alles.
Ich selber bin eigentlich nur die Hälfte eines Ganzen. Das Ganze besteht aus Senta und mir, und ich heiße Sonja. Wir sind Zwillinge und Herzensfreundinnen, sehen uns so ähnlich, daß nur die eine von uns zum Fotografen geht, wenn wir Paßbilder brauchen, und nur eine zur Schneiderin zum Anprobieren, wenn wir beide neue Kleider kriegen.
Mit Familiennamen heißen wir Rywig. Papa ist Arzt. Unsere Mutti, an der wir alle mit größter Liebe hängen, ist erst zweiunddreißig! Ja - erraten: Sie ist unsere Stiefmutter.
Mama starb, als Senta und ich sechs waren. Fünf Jahre später kam Beate zu uns. Jung und fröhlich und voll Herzensgüte. Wir liebten sie vom ersten Augenblick an und sagten ihr hundertmal: „Du darfst uns nie verlassen, Beate! Bleib bei uns!“
Sie blieb! Denn sie heiratete Papa, zum Glück! Nein, wie froh waren wir, als es soweit war! „Wir“, das waren Papa - natürlich -, Senta und ich und unsere Brüder: Bernt, der damals vierzehn war, und Hans Jörgen, ein hoffnungsvoller Fünfjähriger. Jetzt ist er ein strammer Jüngling von vierzehn!
Dann kam Familienzuwachs: nach einem Jahr Stefan und vor zwei Jahren unser Schwesterchen Annette. Sie ist das einzige Problemkind der Familie. Das heißt, wir Geschwister haben ein Problemkind aus ihr gemacht. Wir verwöhnen und lieben und verhätscheln sie derart, daß wir unsere Eltern zur Verzweiflung bringen.
Beatemutti ist nämlich eine sehr vernünftige Mutter. Das hat sie in ihrem Elternhaus gelernt. Sie ist die älteste von acht Geschwistern, und sie hat ein paar reizende, aber trotzdem schrecklich vernünftige Eltern.
Aber eins weiß ich: Sollten Beatemuttis Erziehungsmethoden einmal verlangen, daß sie dem Goldkindchen Annette einen Klaps verpassen müßte, dann würden fünf Geschwister sich vor Annettchen stellen - nein: sechs! Nämlich auch Bernts Frau Katrin. Ja, mein Bruder hat schon als Student seine Katrin geheiratet. Sie war Haustochter bei uns, und eins, zwei, drei war sie mit Bernt verlobt. Sie ist medizinisch-technische Assistentin und verdient das notwendige Kleingeld, während ihr Mann seine Studien zu Ende führt. Sie wohnen in unserem Haus - vorläufig. So ist die ganze Familie beisammen. Und Katrin hilft uns eifrig, Annettchen nach Strich und Faden zu verwöhnen.
Als Senta und ich mit sehr wechselndem Erfolg die Schule absolviert hatten, faßten unsere Eltern einen Entschluß, der uns viele Tränen kostete: Sie haben uns getrennt. Wir müßten endlich lernen, zwei selbständige Menschen zu werden, behaupteten sie. Also wurde ich nach England geschickt, wo ich in einer - übrigens sehr sympathischen - Familie Englisch lernte und außerdem Kochen - eine Art des Kochens, die ich später nie praktiziert habe. Ich kriege Angstträume, wenn ich an die warmen englischen Puddings denke - und an das zerkochte Gemüse in einer dicken Mehlsoße!
Kaum war ich wieder nach Hause gekommen, wurde Senta losgeschickt. Sie kam nach Deutschland. Halt, das habe ich ganz vergessen zu sagen: Wir sind eine norwegische Familie und wohnen in einem Vorort von Oslo.
Senta kam auf ein großes Gut in der Nähe von Kiel, um dort ihre Praxis zu machen, bevor sie ihre richtige Berufsausbildung anfangen konnte: sie will Diätköchin werden. Für Senta war es kein Opfer, nach Kiel zu fahren, denn ausgerechnet dort studiert ihr Herzensfreund Rolf an der Universitäts-Zahnklinik.
So ist es gekommen, daß wir
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