Rywig 11 - Sonnige Tage mit Katrin
verkalkte Omi mir mit der französischen Sprache helfen sollte!“
Worauf Hanni kopfschüttelnd ins Schlafzimmer verschwand.
Die zweite Allegra
Am folgenden Sonntag machte ich mit den Eltern einen Autoausflug. Es war Mai, überall war es grün, der Buchenwald war so schön, wie er nur im Mai sein kann, und wir hatten ein sagenhaftes Glück: Auf einem stillen und wortlosen Waldspaziergang sahen wir zwei winzige Rehkitzchen, sie konnten höchstens eine Woche alt sein.
Vati war großzügig und lud uns zum Mittagessen in ein nettes Lokal ein. „Dann braucht Mutti nicht zu kochen“, war sein Grund.
„Und wir kriegen das Sonntagsessen am Montag“, sagte Mutti lächelnd.
Am Mittagstisch mußte ich erzählen. Die Eltern nahmen lebhaft teil an meinen Problemen, meinen Pflichten und überhaupt an meinem - oft etwas seltsamen - täglichen Leben bei Frau Felsdorf.
Natürlich erzählte ich von der großen Überraschung mit den französischen Sprachkenntnissen, und wie Frau Felsdorf mir lebhaft und ganz normal über ihre Frankreichreisen erzählt hatte.
Vati nickte. „Weißt du, Alli, das ist ein ganz bekanntes Phänomen. Ich habe es auch mit meiner eigenen Großmutter erlebt. Aus ihrer Jugend wußte sie alles, sehr viel von ihren Schulkenntnissen waren bei ihr hängengeblieben, sie konnte lustig und reizend aus der Kindheit ihrer Kinder erzählen. Alles bis zu einem gewissen Punkt. Was sie in den letzten Jahren gesehen und erlebt hatte, war aus ihrem Gedächtnis wie ausradiert. Geschweige denn, was vor zwei Tagen oder vor drei Stunden geschehen war.“
„Na, dann weißt du ja, wie anstrengend es sein kann“, meinte ich.
„Kommt darauf an“, sagte Vati. „Wir lernten ja, daß wir nur das Gespräch auf die Vergangenheit zu lenken brauchten, dann konnten wir die gute Großmama als einen normalen Menschen betrachten und uns blendend mit ihr unterhalten.“
„Ich überlege etwas“, sagte Mutti langsam. „Ob nicht die weise Natur etwas bezweckte. Der alte Kopf ist müde, er hat genug Eindrücke aufgenommen, eines Tages kann er nicht mehr, und es ist gut so. Dann hat der alte Mensch seine Ruhe. Was das Gehirn aufgenommen hat, das sitzt, und wenn man versucht, mehr reinzustopfen, läuft es eben über. Man kann nicht einen vollen Eimer dazu überreden, mehr Wasser zu fassen. Wenn er voll ist, ist er eben voll.“
„Vielleicht hast du recht“, meinte Vati. „Ich habe mir übrigens ähnliche Gedanken gemacht. Mein Großvater wurde sehr schwerhörig, und seine wohlmeinende Familie verschaffte ihm ein Hörgerät. Er wurde gar nicht glücklich damit. Die Schwerhörigkeit hatte ihm Ruhe verschafft, er ging seinen eigenen Gedanken nach und wurde nicht von der Unruhe der Umwelt gestört. Versteh mich richtig: Wenn ein junger Mensch das Unglück hat, schwerhörig zu werden, ist es ein Segen für ihn, daß es gute Hörgeräte gibt. Aber ich glaube, die Alten soll man in Ruhe lassen. Da hat die weise Natur dafür gesorgt, daß sie es vermeiden, eine Menge Sachen zu hören, die sie doch nicht aufnehmen und verarbeiten können.“
„Ja, schwerhörig ist Frau Felsdorf nun nicht“, sagte ich. „Aber mit den Gesprächen über die Vergangenheit werde ich es versuchen. Ich glaube, sie ist ein sehr intelligenter Mensch und hat bestimmt eine Menge Interessen gehabt. Ich werde mal sehen, was ich ausgraben kann. Letzten Endes kommt es soweit, daß ich etwas von ihr lernen kann.“
Vati hatte recht. Als ich am folgenden Tag Frau Felsdorf fragte, welche ihrer Reisen am schönsten gewesen sei, holte sie freudestrahlend ein Buch aus ihrem Bücherschrank. Wahrscheinlich standen die Bücher seit Jahren auf demselben Platz, denn sie wußte sofort, wo dieser Band war. Es war ein Bilderband aus Prag.
Sie zeigte und erzählte, wußte alle Namen, konnte zu allem ihre Kommentare geben. Ich nahm alles in mich auf, nicht aus Höflichkeit, sondern weil Prag immer das Ziel meiner Träume gewesen ist. Ich möchte einmal im Leben über die Karlsbrücke gehen, ich möchte auf dem Hradschin stehen und den Blick über die ganze „Goldene Stadt“ gleiten lassen. Ich möchte die „Kleinseite“ sehen und den Wenzelsplatz, und ich möchte an einem Frühjahrsabend in einem gemütlichen Lokal am Ufer der Moldau sitzen, und dann müßte unbedingt ein Orchester Smetanas „Moldau“ spielen.
Warum ich mich gerade in Prag verliebt habe, weiß ich nicht. Alle Menschen haben vielleicht ein Traumziel, und bei mir war es also Prag.
„Ja, die herrliche
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