Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rywig 11 - Sonnige Tage mit Katrin

Titel: Rywig 11 - Sonnige Tage mit Katrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Berte Bratt
Vom Netzwerk:
antwortete ich wie ich bis jetzt nie geantwortet hatte, und es war nicht das erstemal, daß ich wegen meines etwas ausgefallenen Namens gefragt wurde: „Dadurch, daß meine Eltern neun Monate vor meiner Geburt im Engadin waren“, sagte ich. „Und mein Name bedeutet.“
    „Freude“, ergänzte die Ärztin.
    „Ja, und außerdem ,guten Tag’.“
    „Ja, ich weiß es. Das Wort gehört zu meinem außerordentlich bescheidenen rätoromanischen Wortschatz. Na, also, Fräulein Allegra: Erzählen Sie mir, warum Sie ausgerechnet Arzthelferin werden möchten!“
    „Weil ich einen Beruf ergreifen möchte, wo ich das, was ich
    besitze, auch geben kann“, antwortete ich. „Ich war keine Leuchte in der Schule, aber ich habe einen Kursus in Heimkrankenpflege gemacht, und die Arbeit lag mir. Sie machte mir Freude. Dann wollte das Schicksal, daß meine Großmutter erkrankte, als ich bei ihr zu Besuch war. Ich pflege sie, bis sie.“, hier mußte ich schlucken und mich gewaltig zusammenreißen, „... bis sie nach einem halben Jahr starb. Ich war beinahe die ganze Zeit allein mit ihr.“ Jetzt versagte meine Stimme.
    Die Ärztin gab mir Zeit, wartete, bis ich weitersprechen konnte.
    „Wissen Sie, Frau Doktor,“ fing ich wieder an, „ich verstehe furchtbar wenig von Physik und Mathematik, und meine Kenntnisse in Geographie und Geschichte sind voll Löcher und Lücken. Aber ich kann Verbände machen und ich kann Blut und Eiter sehen, ohne hysterisch zu werden. Ich kann Erbrochenes aufwischen und Becken saubermachen, das habe ich bewiesen. Und dann habe ich noch etwas. Ich habe von meinen Eltern und von der ganzen Familie so unsagbar viel Liebe bekommen. Manchmal habe ich das Gefühl, daß all diese Liebe sich bei mir gespeichert hat - ich habe einen großen Vorrat davon, Liebe, die ich weitergeben möchte. Sehr viel Liebe und sehr viel Lust zum Helfen, das wäre doch etwas Positives, etwas, worauf ich als Arzthelferin meine Zukunft bauen könnte?“
    „Da haben Sie recht“, sagte die Ärztin. „Aber sagen Sie, warum gehen Sie dann nicht in die Krankenpflege? Warum machen Sie nicht die Krankenschwesterausbildung?“
    Ich holte tief Luft. Jetzt mußte ich versuchen, das zu erklären, was mir selbst eigentlich nicht so ganz klar war. Ich mußte die Worte für das finden, das als nicht durchdachte Gefühle tief in meinem Inneren lag.
    „Vor einem Jahr“, fing ich an, „wollte ich es auch. Aber ich kann es nicht. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll - ich möchte so gern kranken Menschen helfen, ich möchte gut zu ihnen sein. Aber mein Leben damit zu verbringen, in Hetze und Zeitnot von Krankenbett zu Krankenbett zu laufen - alte Menschen zu pflegen bis zum Tod -jedesmal wenn ich einen todkranken Patienten hätte, würde ich einen einzigen Wunsch haben, nämlich ganz für ihn dazusein. Und dann müßte ich mich darauf beschränken, sein Bett zu machen oder ihm das Becken oder die Medizin zu geben, und dann husch, husch zum nächsten Patienten, womöglich von einer strengen Stationsschwester getrieben. Ich könnte es nicht! Und ich würde jedesmal, bei jedem todkranken Patienten, ein kleines Stück von mir selbst geben, ein klein bißchen sterben, bis - ja, bis nichts mehr von mir übrig wäre. Ach, Frau Doktor, es ist das erstemal, daß ich versuche, dies auszudrücken. Ich weiß gar nicht, ob Sie mich verstehen.“
    Die Ärztin nickte. Ihre schönen Augen waren voll Wärme. „Doch, Allegra. Ich verstehe Sie besser als Sie ahnen. Aber es gibt doch, Gott sei Dank, so viele Krankenschwestern, die mit ihrem schweren Beruf fertigwerden.“
    „Ja, und die bewundere ich!“ sagte ich. „Es gibt bestimmt auch viele, die abgehärtet werden, ja das müssen sie ja, sonst könnten sie nicht durchhalten. Aber ich eigne mich nicht fürs Abhärten. Das einzige, was ich zu geben habe, ist ja Liebe und Mitgefühl, und das möchte ich immer geben können. Es gibt zwei Dinge in einem Menschenleben, denen ich als Mensch, als fühlender Mensch gegenüberstehen möchte, und nicht als eine routinierte Krankenschwester: Geburt und Tod. Es würde mir nie Gewohnheit werden, die Schreie einer gebärenden Frau zu hören oder den Todeskampf eines Menschen mit anzusehen. Das würde mich jedesmal ein Stückchen von meinem Herzen kosten!“
    Endlich, endlich hatte ich das alles ausgedrückt, was seit Momos Tod in meiner Seele gearbeitet hatte, endlich war es mir auch selbst klargeworden. Ich empfand es als eine Erleichterung.
    Es entstand eine

Weitere Kostenlose Bücher