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SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

Titel: SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Augstein
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notwendigen Lebensmittel gegeben.«
    Dass Armut und Reichtum als absolute Begriffe sinnlos sind und nur in räumlicher und zeitlicher Relation eine Bedeutung bekommen können, leuchtet unmittelbar ein. Nur den Relativierungspolemikern nicht. Sie machen aus der sozialen Not einen statistischen Spaß. Das Schicksal der Marginalisierten, der Überflüssigen wird ihnen zur Zahlenspielerei.
    In der »Wirtschaftswoche« konnte man diesen Gedanken lesen: »Wenn nun ein gütiger Spender über alle Deutschen gleichmäßig verteilt einen Geldsegen niedergehen lassen würde, dann würde das an der Zahl der Armen und Armutsgefährdeten überhaupt nichts ändern. Denn dann stiege ja auch das mittlere Einkommen der Deutschen, also die Größe, an der sich die Armut bemisst.«
    Ja, so wäre das dann wohl. Aber was soll das? Mit der Wirklichkeit des Hartz-IV-Empfängers, dem man 374 Euro im Monat auszahlt, hat das nichts zu tun. Das ist der Regelsatz. Das ist das Existenzminimum.
    Der Kampf gegen die Armut wird mit harten Bandagen geführt – das heißt, der Kampf gegen die Wahrnehmung der Armut. Es ist beispielsweise verblüffend, mit welcher Regelmäßigkeit Kritiker der Armutsberichterstattung das mittlere Einkommen mit dem Durchschnittseinkommen verwechseln. Das ist nämlich durchaus nicht dasselbe, wird aber immer wieder vermischt – absichtsvoll oder unabsichtlich.
    Als im Mai 2009 mal wieder neue Armutszahlen durch das Land gingen, die eigentlich die alten waren, weil die Armut ja beständig zunimmt, egal ob die Wirtschaft wächst oder ob sie schrumpft, da wollte auch die »Bild-Zeitung« das einfach wegschreiben. »Armuts-Alarm in Deutschland, zerbricht die Republik?«, fragte die Zeitung und antwortete sich selbst: »Was für ein Unsinn. Die Berechnung ist ein Taschenspieler-Trick und die Absicht dahinter aberwitzig. Der Beweis: Kommen morgen tausend neue Millionäre nach Deutschland, steigt das Durchschnittseinkommen – und wir haben rechnerisch, oh Schreck, noch ›mehr Arme‹, die darunterliegen. Verlassen tausend Millionäre das Land, sinkt plötzlich auch die Zahl der ›Armen‹.«
    Die Netzseite bildblog.de hat sich seinerzeit sehr gründlich mit diesem Missverständnis befasst:
    Die »Bild« hätte recht, schrieben die Netzwächter, »wenn sich die Definition von Armut auf das ›Durchschnittseinkommen‹ beziehen würde. Das tut sie aber nicht. Sie bezieht sich auf das ›mittlere Einkommen‹. Das mittlere Einkommen ist der Median. Man erhält diesen Wert, indem man alle Bürger sortiert nach Einkommen in einer Reihe aufstellt und denjenigen, der dann genau in der Mitte steht, fragt, was er verdient. Der Unterschied zum durchschnittlichen Einkommen kann erheblich sein – und zwar genau dann, wenn zum Beispiel einzelne Millionäre ins Spiel kommen.«
    Der Median ist eine praktische Erfindung der Mathematik. Er glättet Verzerrungen, die durch eine kleine Zahl von extremen Werten verursacht wird. Wenn morgen tausend Millionäre nach Deutschland kommen, wie die »Bild«-Zeitung sich vorstellt, würde zwar das deutsche Durchschnittseinkommen steigen, aber der Einkommensmedian des 80-Millionen-Volks bliebe mehr oder weniger unverändert. Die Verwechslung passt der »Bild« gut ins politische Konzept. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Es gibt noch eine Möglichkeit, der Armutsdebatte auszuweichen. Sie ist schlimmer als Trickserei mit Definitionen und mehr oder weniger absichtsvolles Missverstehen des statistischen Handwerkszeugs. Diese härtere Variante besteht darin, den Armen ein lautes »Selber schuld!« hinterherzurufen. Als im Jahr 2001 der erste Armutsbericht erschien, hat der Dortmunder Statistik-Professor Walter Krämer das in der »FAZ« gleich mal durchgespielt: »Zwar schrieb schon Goethe: ›Arm am Beutel, krank am Herzen‹, doch mit Geld allein ist vielen Armen kaum zu helfen. Überfüllte Wohnungen, hungernde und verwahrloste Kinder, abgestellte Strom- und Telefonanschlüsse in den Slums amerikanischer Großstädte zeugen zweifellos von Armut. Doch ist es nicht in erster Linie der Mangel an Geld, der die Kinder dort zu schlechten Schülern und jungen Kriminellen macht – es sind der Mangel an Aufsicht, ein ungeordnetes Zuhause, oft das Fehlen des Familienvaters. Würde man das Einkommen der Familien dieser Kinder von der aktuellen Armutsgrenze von 15.000 auf 30.000 Dollar im Jahr verdoppeln, gingen Kriminalität und Zahl der Schulabbrecher (›drop out rates‹) kaum wesentlich zurück, wie

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