SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
Ungleichheit« hieß ein Papier, das Reinhard Pollak im Auftrag der Böll-Stiftung im Jahr 2010 vorlegte. Es war eine bemerkenswerte Studie, weil in Wahrheit bis zu diesem Zeitpunkt niemand so ganz genau wusste, wie es um die sozialen Aufstiegschancen in Deutschland eigentlich bestellt ist. Es gab Vermutungen und Vorurteile und jede Menge Zahlen, die bislang aber nie zu einem einheitlichen Bild zusammengefasst worden waren. Vor allem nicht zu einem Bild, das mit den Zahlen anderer Länder sinnvoll vergleichbar gewesen wäre. Der Soziologe Pollak schloss diese Lücke. Jetzt ist klar: Tellerwäscher werden in Deutschland keine Millionäre: »In den vorliegenden Daten schaffen es weniger als 1% der Kinder aus ungelernten Arbeiterpositionen, selbst eine leitende Angestelltenposition zu erhalten – und sind damit noch lange nicht zwangsläufig Millionäre geworden.« Zwei Drittel der Kinder solcher leitender Angestellten jedoch werden den Status ihrer Eltern halten. Pollak schreibt: »Geschichten von sagenhaften Aufstiegen mögen sich in der Presse oder im politischen Diskurs gut verkaufen, jedoch sind sie die absolute Ausnahme und haben keinerlei direkten Einfluss auf die Sozialstruktur unserer Gesellschaft. Sie bedienen bestenfalls die Traumvorstellungen an einen solchen Aufstieg. Die Realität sieht aber für über 99% der Gesellschaft anders aus.« Wenn man es positiv formulieren wollte, müsste man sagen: Nach Pollaks Studie ist die deutsche Gesellschaft von großer Stabilität geprägt. Die meisten Leute steigen ein bisschen auf, aber selten weit. Und wenn sie stürzen, dann stürzen sie selten tief. Das gilt allerdings nur für den Westen. Im Osten hat der Zusammenbruch der Wirtschaft und der staatlichen Institutionen zu sozialen Verwerfungen geführt, die der Westen des Landes seit dem Krieg nicht mehr erlebt hat. Wir sehen Deutschland gleichsam als Ständestaat vor uns. Dynamik, Chancengleichheit, Mobilität – Fehlanzeige. Auf den ersten Blick übrigens ergeben Pollaks Forschungen, dass die Mehrheit der Deutschen durchaus ihren Status verbessert. Aber auf den zweiten Blick erklärt sich das aus dem sogenannten Fahrstuhleffekt: Die gesamte Gesellschaft bewegt sich nach oben, das Ständegefüge im Inneren bleibt erhalten. Wenn nur noch jedes sechste Kind eines Landwirts selber Landwirt werden kann, weil das nicht direkt ein Beruf mit Zukunft ist, und die übrigen einen anderen Beruf wählen müssen, dann findet die soziale Mobilität ihre Ursache hier nicht in der Durchlässigkeit der Gesellschaft, sondern im Wandel ihrer Strukturen.
Deutschland ist also ein Land, in dem man bleibt, was man ist. Wenn das schon für die Deutschen gilt, dann gilt es für die Einwanderer erst recht. Einen »deutschen Traum« gibt es nicht: Den Einwanderern gelingt es nicht nur nicht, aufzusteigen. Selbst die Kinder gut gebildeter Eltern laufen ein im Vergleich zur deutschen Bevölkerung unverhältnismäßiges Risiko, sozial abzustürzen. Drei Viertel der Kinder ungelernter eingewanderter Arbeiter bleiben selbst auf diesem Status. Und selbst wenn der Vater die Hochschulreife mitbringt, sackt statistisch gesehen mehr als ein Viertel seiner Kinder auf das Niveau eines Ungelernten zurück. Die Triebkraft der Migration – meine Kinder sollen es einmal besser haben als ich – läuft unter deutschen Umständen ins Leere.
Die linke Wochenzeitung »Freitag« hat 2012 einmal eine Reihe von Artikeln über die soziale Unbeweglichkeit im Land veröffentlicht. Da taucht ein Anwalt aus Duisburg auf, Ali Aydin, Sohn eines Stahlkochers und einer Hausfrau. Der fährt mit dem Reporter durch sein altes Viertel und zeigt ihm, woher er kommt: Beeck und Bruckhausen heißen die Gegenden. Beton, traurig verbaut. Er sagt, ein einziger Augenblick in seinem Leben habe darüber entschieden, dass aus ihm kein Drogenhändler oder Zuhälter oder Gelegenheitsarbeiter geworden sei:
Das war im Sommer, in den frühen achtziger Jahren.
»Damals fand die Einschulungsfeier an der Grundschule in seinem Stadtteil statt. Zwei Klassen habe es gegeben, eine für die Ausländer, eine für die Deutschen, darunter ein paar wenige Migranten, deren Deutschkenntnisse die Lehrer für akzeptabel hielten. Eigentlich erübrigte sich die Frage, dass Ali als Kind türkischer Gastarbeiter in die Ausländerklasse gehörte. Wäre da nicht seine 18-jährige Schwester gewesen: Sie überredete die Schulleitung, dass ihr kleiner Bruder, 1975 in Duisburg geboren, der deutschen Sprache
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