Sämtliche Werke
Paganini, der uns mit leisem Bogenstrich jetzt zu den sonnigsten Höhen führte, jetzt in grauenvolle Tiefen blicken ließ, besaß freilich eine weit dämonischere Kraft; aber seine Schatten und Lichter waren mitunter zu grell, die Kontraste zu schneidend, und seine grandiosesten Naturlaute mußten oft als künstlerische Mißgriffe betrachtet werden. Ernst ist harmonischer, und die weichen Tinten sind bei ihm vorherrschend. Dennoch hat er eine Vorliebe für das Phantastische, auch für das Barocke, wo nicht gar für das Skurrile, und viele seiner Kompositionen erinnern mich immer an die Märchenkomödien des Gozzi, an die abenteuerlichsten Maskenspiele, an »Venezianischen Karneval«. Das Musikstück, das unter diesem Namen bekannt ist und unverschämterweise von Sivori gekapert ward, ist ein allerliebstes Capriccio von Ernst. Dieser Liebhaber des Phantastischen kann, wenn er will, auch rein poetisch sein, und ich habe jüngst eine Nocturne von ihm gehört, die wie aufgelöst war in Schönheit. Man glaubte sich entrückt in eine italienische Mondnacht, mit stillen Zypressenalleen, schimmernd weißen Statuen und träumerisch plätschernden Springbrunnen. Ernst hat, wie bekannt ist, in Hannover seine Entlassung genommen und ist nicht mehr königlich hannoverscher Konzertmeister. Das war auch kein passender Platz für ihn. Er wäre weit eher geeignet, am Hofe irgendeiner Feenkönigin, wie z.B. der Frau Morgane, die Kammermusik zu leiten; hier fände er ein Auditorium, das ihn am besten verstünde, und darunter manche hohe Herrschaften, die ebenso kunstsinnig wie fabelhaft, z.B. den König Artus, Dietrich von Bern, Ogier den Dänen u.a. Und welche Damen würden ihm hier applaudieren! Die blonden Hannoveranerinnen mögen gewiß hübsch sein, aber sie sind doch nur Heidschnucken in Vergleichung mit einer Fee Melior, mit der Dame Abonde, mit der Königin Genoveva, der schönen Melusine und andern berühmten Frauenspersonen, die sich am Hofe der Königin Morgane in Avalun aufhalten. An diesem Hofe (an keinem andern) hoffen wir einst dem vortrefflichen Künstler zu begegnen, denn auch uns hat man dort eine vorteilhafte Anstellung versprochen.
Zweiter Bericht
Paris, 1. Mai 1844
Die Académie royale de musique, die sogenannte Große Oper, befindet sich bekanntlich in der Rue Lepelletier, ungefähr in der Mitte, der Restauration von Paolo Broggi gerade gegenüber. Broggi ist der Name eines Italieners, der einst der Koch von Rossini war. Als letzterer voriges Jahr nach Paris kam, besuchte er auch die Trattoria seines ehemaligen Dieners, und nachdem er dort gespeist, blieb er vor der Türe lange Zeit stehen, in tiefem Nachdenken das Große-Opern-Gebäude betrachtend. Eine Träne trat in sein Auge, und als jemand ihn frug, weshalb er so wehmütig bewegt erscheine, gab der große Maestro zur Antwort: Paolo habe ihm sein Leibgericht, Ravioli mit Parmesankäse, zubereitet wie ehemals, aber er sei nicht imstande gewesen, die Hälfte der Portion zu verzehren, und auch diese drücke ihn jetzt; er, der ehemals den Magen eines Straußes besessen, könne heutzutage kaum soviel vertragen wie eine verliebte Turteltaube.
Wir lassen dahingestellt sein, inwieweit der alte Spottvogel seinen indiskreten Frager mystifiziert hat, und begnügen uns heute, jedem Musikfreunde zu raten, bei Broggi eine Portion Ravioli zu essen und nachher, ebenfalls einen Augenblick vor der Türe der Restauration verweilend, das Haus der Großen Oper zu betrachten. Es zeichnet sich nicht aus durch brillanten Luxus, es hat vielmehr das Äußere eines sehr anständigen Pferdestalles, und das Dach ist platt. Auf diesem Dach stehen acht große Statuen, welche Musen vorstellen. Eine neunte fehlt, und ach! das ist eben die Muse der Musik. Über die Abwesenheit dieser sehr achtungswerten Muse sind die sonderbarsten Auslegungen im Schwange. Prosaische Leute sagen, ein Sturmwind habe sie vom Dache heruntergeworfen. Poetischere Gemüter behaupten dagegen, die arme Polyhymnia habe sich selbst hinabgestürzt, in einem Anfall von Verzweiflung über das miserable Singen von Monsieur Duprez. Das ist immer möglich; die zerbrochene Glasstimme von Duprez ist so mißtönend geworden, daß es kein Mensch, viel weniger eine Muse, aushalten kann, dergleichen anzuhören. Wenn das noch länger dauert, werden auch die andern Töchter der Mnemosyne sich vom Dach stürzen, und es wird bald gefährlich sein, des Abends über die Rue Lepelletier zu gehen. Von der schlechten Musik, die hier in
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