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Sämtliche Werke

Titel: Sämtliche Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Heine
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Volke, und sogar der dicke Beefeater, der mit seinem roten Rock und roten Gesicht im Tower als Wegweiser dient und dir hinter dem Mitteltor das Verlies zeigt, wo Richard seine Neffen, die jungen Prinzen, ermorden lassen, verweist dich an Shakespeare, welcher die nähern Umstände dieser grausamen Geschichte beschrieben habe. Auch der Küster, der dich in der Westminsterabtei herumführt, spricht immer von Shakespeare, in dessen Tragödien jene toten Könige und Königinnen, die hier, in steinernem Konterfei, auf ihren Sarkophagen ausgestreckt liegen und für einen Schilling sechs Pence gezeigt werden, eine so wilde oder klägliche Rolle spielen. Er selber, die Bildsäule des großen Dichters, steht dort in Lebensgröße, eine erhabene Gestalt mit sinnigem Haupt, in den Händen eine Pergamentrolle… Es stehen vielleicht Zauberworte darauf, und wenn er um Mitternacht die weißen Lippen bewegt und die Toten beschwört, die dort in den Grabmälern ruhen, so steigen sie hervor mit ihren verrosteten Harnischen und verschollenen Hofgewanden, die Ritter der weißen und der roten Rose, und auch die Damen heben sich seufzend aus ihren Ruhestätten, und ein Schwertergeklirr und ein Lachen und Fluchen erschallt… Ganz wie zu Drurylane, wo ich die Shakespeareschen Geschichtsdramen so oft tragieren sah und wo Kean mir so gewaltig die Seele bewegte, wenn er verzweifelnd über die Bühne rann:
    »A horse, a horse, my kingdom for a horse!«
    Ich müßte den ganzen »Guide of London« abschreiben, wenn ich die Orte anführen wollte, wo mir dort Shakespeare in Erinnerung gebracht wurde. Am bedeutungsvollsten geschah dieses im Parlamente, nicht sowohl deshalb, weil das Lokal desselben jenes Westminster-Hall ist, wovon in den Shakespeareschen Dramen so oft die Rede, sondern weil, während ich den dortigen Debatten beiwohnte, einigemal von Shakespeare selber gesprochen wurde, und zwar wurden seine Verse nicht ihrer poetischen, sondern ihrer historischen Bedeutung wegen zitiert. Zu meiner Verwunderung merkte ich, daß Shakespeare in England nicht bloß als Dichter gefeiert, sondern auch als Geschichtschreiber von den höchsten Staatsbehörden, von dem Parlamente, anerkannt wird.
    Dies führt mich auf die Bemerkung, daß es ungerecht sei, wenn man bei den geschichtlichen Dramen Shakespeares die Ansprüche machen will, die nur ein Dramatiker, dem bloß die Poesie und ihre künstlerische Einkleidung der höchste Zweck ist, befriedigen kann. Die Aufgabe Shakespeares war nicht bloß die Poesie, sondern auch die Geschichte; er konnte die gegebenen Stoffe nicht willkürlich modeln, er konnte nicht die Ereignisse und Charaktere nach Laune gestalten; und ebensowenig wie Einheit der Zeit und des Ortes konnte er Einheit des Interesse für eine einzige Person oder für eine einzige Tatsache beobachten. Dennoch, in diesen Geschichtsdramen strömt die Poesie reichlicher und gewaltiger und süßer als in den Tragödien jener Dichter, die ihre Fabeln entweder selbst erfinden oder nach Gutdünken umarbeiten, das strengste Ebenmaß der Form erzielen und in der eigentlichen Kunst, namentlich aber in dem enchaînement des scènes, den armen Shakespeare übertreffen.
    Ja, das ist es, der große Brite ist nicht bloß Dichter, sondern auch Historiker; er handhabt nicht bloß Melpomenes Dolch, sondern auch Klios noch schärferen Griffel. In dieser Beziehung gleicht er den frühesten Geschichtschreibern, die ebenfalls keinen Unterschied wußten zwischen Poesie und Historie und nicht bloß eine Nomenklatur des Geschehenen, ein stäubiges Herbarium der Ereignisse, lieferten, sondern die Wahrheit verklärten durch Gesang und im Gesange nur die Stimme der Wahrheit tönen ließen. Die sogenannte Objektivität, wovon heut soviel die Rede, ist nichts als eine trockene Lüge; es ist nicht möglich, die Vergangenheit zu schildern, ohne ihr die Färbung unserer eigenen Gefühle zu verleihen. Ja, da der sogenannte objektive Geschichtschreiber doch immer sein Wort an die Gegenwart richtet, so schreibt er unwillkürlich im Geiste seiner eigenen Zeit, und dieser Zeitgeist wird in seinen Schriften sichtbar sein, wie sich in Briefen nicht bloß der Charakter des Schreibers, sondern auch des Empfängers offenbart. Jene sogenannte Objektivität, die, mit ihrer Leblosigkeit sich brüstend, auf der Schädelstätte der Tatsachen thront, ist schon deshalb als unwahr verwerflich, weil zur geschichtlichen Wahrheit nicht bloß die genauen Angaben des Faktums, sondern auch gewisse

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