Sämtliche Werke
Es galt nämlich nicht, die tiefere Bedeutung der Mythologie durch neoplatonische Spitzfindigkeiten zu beweisen, den erstorbenen Göttern ein neues symbolisches Lebensblut zu infusieren und sich mit den plumpen, materiellen Einwürfen der ersten Kirchenväter, die besonders über den moralischen Charakter der Götter fast voltairisch spotteten, tagtäglich abzuquälen: es galt vielmehr, den Hellenismus selbst, griechische Gefühls- und Denkweise, zu verteidigen und der Ausbreitung des Judäismus, der judäischen Gefühls- und Denkweise, entgegenzuwirken. Die Frage war, ob der trübsinnige, magere, sinnenfeindliche, übergeistige Judäismus der Nazarener oder ob hellenische Heiterkeit, Schönheitsliebe und blühende Lebenslust in der Welt herrschen solle. Jene schönen Götter waren nicht die Hauptsache; niemand glaubte mehr an die ambrosiaduftenden Bewohner des Olymps, aber man amüsierte sich göttlich in ihren Tempeln, bei ihren Festspielen, Mysterien; da schmückte man das Haupt mit Blumen, da gab es feierlich holde Tänze, da lagerte man sich zu freudigen Mahlen… wo nicht gar zu noch süßeren Genüssen.
All diese Lust, all dieses frohe Gelächter ist längst verschollen, und in den Ruinen der alten Tempel wohnen, nach der Meinung des Volkes, noch immer die altgriechischen Gottheiten, aber sie haben durch den Sieg Christi all ihre Macht verloren, sie sind arge Teufel, die sich am Tage, unter Eulen und Kröten, in den dunkeln Trümmern ihrer ehemaligen Herrlichkeit versteckt halten, des Nachts aber in liebreizender Gestalt emporsteigen, um irgendeinen arglosen Wandrer oder verwegenen Gesellen zu betören und zu verlocken.
Auf diesen Volksglauben beziehen sich nun die wunderbarsten Sagen, und neuere Poeten schöpften hier die Motive ihrer schönsten Dichtungen. Der Schauplatz ist gewöhnlich Italien und der Held derselben irgendein deutscher Ritter, der wegen seiner jungen Unerfahrenheit oder auch seiner schlanken Gestalt wegen von den schönen Unholden mit besonders lieblichen Listen umgarnt wird. Da geht er nun, an schönen Herbsttagen, mit seinen einsamen Träumen spazieren, denkt vielleicht an die heimischen Eichenwälder und an das blonde Mädchen, das er dort gelassen, der leichte Fant! Aber plötzlich steht er vor einer marmornen Bildsäule, bei deren Anblick er fast betroffen stehenbleibt. Es ist vielleicht die Göttin der Schönheit, und er steht ihr Angesicht zu Angesicht gegenüber, und das Herz des jungen Barbaren wird heimlich ergriffen von dem alten Zauber. Was ist das? So schlanke Glieder hat er noch nie gesehen, und in diesem Marmor ahndet er ein lebendigeres Leben, als er jemals in den roten Wangen und Lippen, in der ganzen Fleischlichkeit seiner Landsmänninnen gefunden hat. Diese weißen Augen sehen ihn so wollüstig an, und doch zugleich so schauerlich schmerzvoll, daß seine Brust erfüllt wird von Liebe und Mitleid, Mitleid und Liebe. Er geht nun öfter spazieren unter den alten Ruinen, und die Landsmannschaft ist verwundert, daß man ihn fast gar nicht mehr sieht bei Trinkgelagen und Waffenspielen. Es gehen kuriose Gerüchte über sein Treiben unter den Trümmern des Heidentums. Aber eines Morgens stürzt er, mit bleichem verzerrten Antlitz, in die Herberge, berichtet die Zehrung, schnürt seinen Ranzen und eilt zurück über die Alpen. Was ist ihm begegnet?
Es heißt, daß er eines Tages später als gewöhnlich, als schon die Sonne unterging, nach seinen geliebten Ruinen wanderte, aber, ob der einbrechenden Finsternis, jenen Ort nicht finden konnte, wo er die Bildsäule der schönen Göttin stundenlang zu betrachten pflegte. Nach langem Umherirren, als es schon Mitternacht sein mochte, befand er sich plötzlich vor einer Villa, die er in dortiger Gegend früherhin nie gesehen hatte, und er war nicht wenig verwundert, als Bediente mit Fackeln heraustraten und ihn im Namen ihrer Gebieterin einluden, dort zu übernachten. Wie groß aber war sein Erstaunen, als er, in einen weiten, erleuchteten Saal tretend, eine Dame erblickte, die dort ganz allein auf und nieder wandelte und an Gestalt und Gesichtszügen mit der schönen Statue seiner Liebe die auffallendste Ähnlichkeit hatte. Ja, sie glich jenem Marmorbild um so mehr, da sie ganz in blendend weißem Musselin gekleidet ging und ihr Antlitz außerordentlich bleich war. Als der Ritter, mit sittigem Verneigen, ihr entgegentrat, betrachtete sie ihn lange ernst und schweigend und fragte ihn endlich lächelnd, ob er hungrig sei. Obgleich nun
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