Saemtliche Werke von Karl May - Band 01
zuwege.«
»Wollen sehen,« lachte Droll, indem er den Blick zur Decke hob, an welcher gerade über dem Tische ein starker Eisenhaken zum Aufhängen einer zweiten Lampe angebracht war. Die andern, welche diesen sahen und die drollige Tante, welche wirklich eine sehr ungewöhnliche Körperstärke besaß, kannten, stießen sich heimlich an.
»Nun, vorwärts!« drängte der Lord.
»Also bloß bis auf den Tisch?« fragte Droll.
»Wollt Ihr mich vielleicht noch höher bringen?«
»So hoch, wie es hier möglich ist. Paßt auf, Sir!«
Er stand trotz der Unbeholfenheit seiner Kleidung mit einem einzigen Sprunge auf dem Tische und ergriff den Lord bei den Achseln. Dieser flog so schnell, daß er gar nicht bemerken konnte, in welcher Weise es geschah, empor, hoch über den Tisch hinauf und hing einen Augenblick später mit dem bereits erwähnten Hüftriemen an dem Haken. Droll aber sprang herab und fragte lachend: »Nun, seid Ihr oben, Sir?«
Der Englishman schlug mit Armen und Beinen um sich und rief: »Himmel, wo bin ich! Woe to me, an der Decke! Nehmt mich herab, nehmt mich herab! Wenn der Haken nachgibt, breche ich den Hals!«
»Sagt erst, wer gewonnen hat!«
»Ihr natürlich, Ihr.«
»Und der zweite Teil der Wette, den nun ich Euch vormachen soll?«
»Den erlasse ich Euch. Nehmt mich nun herab! Schnell, schnell!«
Droll stieg wieder auf den Tisch, von welchem natürlich das Speisegeschirr entfernt worden war, ergriff den Engländer mit beiden Händen an den Hüften, hob ihn empor, daß der Riemen aus dem Haken kam, und schwenkte ihn erst neben sich auf dem Tisch und dann hinab auf den Fußboden. Als er nachgesprungen war, legte er ihm die Hand auf die Schulter und fragte: »Nun, Sir, wie gefällt Euch die Tante?«
»Much, how much, too much – sehr, wie sehr, allzusehr!« antwortete der Gefragte, indem sein Blick noch immer dort hing, wo er selbst gehangen hatte.
»Dann also in den Sack mit dem alten Papiere!«
Er steckte die Noten und Nuggets in den Beutel und fuhr dann schmunzelnd fort: »Und bitte, Mylord, wenn Ihr wieder einmal wetten wollt, so wendet Euch getrost an mich! Ich mache immer mit.«
Er stellte die Teller, Flaschen und Gläser wieder auf den Tisch, wobei ihm von allen Seiten anerkennend zugenickt wurde. Der Lord aber setzte sich wieder nieder, betastete seine Arme, Beine und Hüften, um zu sehen, ob da vielleicht eine Schraube locker geworden sei, und als er sich überzeugt hatte, daß er sich ganz wohl befinde, gab er der Tante die Hand und sagte, indem er vergnügt lächelte: »Herrliche Wette. Nicht wahr? Sind doch prächtige Kerls, diese Westmänner? Man muß sie nur richtig behandeln!«
»Nun, ich denke, daß ganz im Gegenteile ich es bin, der Euch behandelt hat, Sir.«
»Auch richtig. Ihr seid wirklich stark. Das hat aber seinen guten Grund, denn Ihr stammt jedenfalls aus Oldengland?«
»O nein, Sir. Ich bin ein Deutscher,« antwortete die Tante bescheiden.
»Ein Deutscher? Dann aber doch sicher aus Pommern?«
»Falsch geraten! Dort wachsen die Pflanzen höher und breiter als ich bin. Ich stamme aus Altenburg.«
»Hm! Kleines Nest!«
»Deutsches Herzogtum, Sir! Dort kommen die besten Ziegenkäse her.«
»Kenne ich nicht.«
»Das ist jammerschade!«
»Rührt mich aber nicht zu Thränen. Ihr seid ein tüchtiger Kerl, Tante. Interessiere mich für Euch. Ihr seid doch nicht immer Westmann gewesen? Oder gibt es in Altenburg auch Trappers?«
»Zu meiner Zeit noch nicht. Es müßten sich vielleicht jetzt welche eingenistet haben.«
»Was war Euer Vater, und warum seid Ihr nach den Vereinigten Staaten gegangen?«
»Mein Vater war kein Lord, aber viel, viel mehr.«
»Pshaw, ist nicht möglich!«
»Sehr! Ihr seid nur Lord, wahrscheinlich weiter nichts. Mein Vater aber war vielerlei.«
»Nun, was denn?« drängte der Lord, welcher erwartete, eine sehr interessante Lebensgeschichte zu hören.
»Er war Hochzeits-, Kindtaufs- und Leichenbitter, Glöckner, Kirchner, Kellner und Totengräber, Sensenschleifer, Obsthüter und zugleich Bürgergardenfeldwebel. Ist das nicht genug?«
»Well, mehr als genug!«
»Richtig, denn wenn ich es kürzer fassen will, so war er ein braver Mann.«
»Er ist tot?«
»Schon längst. Ich besitze keine Verwandten mehr.«
»Und da seid Ihr aus Gram über das große Wasser gegangen?«
»Nicht aus Gram. Mein Dialekt hat mich herübergetrieben.«
»Euer Dialekt? Wie ist das möglich?«
»Um das zu verstehen, müßtet Ihr ein Deutscher sein, oder
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