Saemtliche Werke von Karl May - Band 01
er muß seine Fluten plötzlich in den Canon ergießen. Wie ist das möglich? Es liegt doch ein hoher, starker Damm dazwischen! Nun, dieser Damm ist vor alter Zeit nicht gewesen; er ist gebaut worden, und dabei hat man ihm eine Einrichtung gegeben, durch welche er plötzlich geöffnet werden kann, so daß der trockene Canon sich augenblicklich in einen reißenden Strom verwandelt. Habe ich es erraten?«
Trotz der Ruhe, welche ein Indianer, und besonders ein Häuptling, in allen Lagen zu bewahren hat, sprang der »große Bär« auf und rief: »Herr, bist du allwissend?«
»Nein, aber ich denke nach.«
»Du hast es erraten; wirklich, du hast es erraten! Aber wie bin ich zu diesem Geheimnisse gekommen?«
»Durch Erbschaft.«
»Und wie wird der Damm geöffnet?«
»Wenn du mir erlaubst, nachzuforschen, so werde ich dir diese Frage sehr bald beantworten.«
»Nein, das darf ich dir nicht erlauben. Aber kannst du auch erraten, weshalb dieser Damm errichtet worden ist?«
»Ja.«
»Nun?«
»Aus zwei Gründen. Erstens zur Verteidigung. Die Eroberer der südlichen Gegenden kamen alle von Norden. Dieser große Canon war ein beliebter Weg der Eroberer. Man baute den Damm, um ihn zu sperren und das Wasser plötzlich loslassen zu können.«
»Und der zweite Grund?«
»Der Schatz.«
»Der Schatz?« fragte der Häuptling, indem er einen Schritt zurücktrat.
»Was weißt du von ihm?«
»Nichts; aber ich errate viel. Ich sehe den See, seine Ufer, seine Umgebung und denke nach. Bevor es den Damm gab, war kein See vorhanden, sondern ein tiefes Thal, durch welches die Bäche, die es heute hier noch gibt, in den Canon flossen, den sie sich gegraben hatten. Eine reiche Nation wohnte hier; sie kämpfte lange Zeit gegen die andringenden Eroberer; sie erkannte, daß sie nachgeben, fliehen müsse, vielleicht einstweilen nur. Sie vergrub ihre Kostbarkeiten, ihre heiligen Gefäße, hier in dem Thale und errichtete den Damm, damit ein großer See entstehe, dessen Flut der unbesiegbare, stumme Wächter dieses Schatzes sei.«
»Schweig, schweig, sonst enthüllst du alles, alles!« rief der »große Bär« erschrocken. »Sprechen wir nicht von dem Schatze, sondern nur von dem Damme. Ja, ich kann ihn öffnen; ich kann tausend und noch mehr Utahs ersäufen, wenn sie sich im Canon befinden. Soll ich es thun, wenn sie kommen?«
»Um Gotteswillen, nein! Es gibt noch andre Mittel, sie zu bezwingen.«
»Welche? Die Waffen?«
»Ja, und sodann die Geiseln, welche dort im Grase liegen. Es sind die berühmtesten Häuptlinge der Utahs. Diese werden, um ihre Anführer zu retten, auf manche Bedingung, die wir machen können, eingehen. Deshalb haben wir sie ergriffen und mitgebracht.«
»Dann müssen wir diese Gefangenen in Sicherheit bringen.«
»Hast du einen passenden Ort?«
»Ja; sie mögen erst essen und trinken; dann werden wir sie nach demselben schaffen.«
Die Gefangenen bekamen die Hände frei; sie erhielten Fleisch und Wasser und wurden dann wieder gefesselt. Nachher wurden sie mit Hilfe einiger Timbabatschen in den am Ufer liegenden Kanoes nach der Insel gebracht. Old Firehand, Shatterhand und Winnetou begaben sich auch hinüber. Sie waren wißbegierig, das Innere des Bauwerkes zu sehen.
Dieses bestand oberhalb nur aus einem Erdgeschoß, welches durch eine Mauer in zwei Abteilungen getrennt wurde. In der einen befand sich der Herd, und die andre bildete den Wohnraum. Dieser war außerordentlich dürftig ausgestattet. Eine Hängematte und ein primitives Lager, das war alles. »Und hier sollen die Gefangenen bleiben?« fragte Old Shatterhand. »Nein, denn hier hätten wir sie nicht sicher genug. Es gibt einen noch viel bessern Ort.«
Er schob das Lager auf die Seite. Dieses bestand aus einer Unterlage von Querhölzern mit darüber gebreiteten Schilfmatten und Decken. Unter dem Lager wurde eine viereckige Öffnung frei, durch welche ein eingekerbter Baumstamm als Leiter nach unten führte. Der Häuptling stieg hinab; Old Shatterhand folgte ihm, und die andern sollten nun die Gefangenen einzeln hinablassen.
Durch die Öffnung fiel so viel Licht in diesen kellerartigen Raum, daß Old Shatterhand sich leicht zu orientieren vermochte. Er war größer als die Wohnstube; die Vergrößerung lag nach der Gartenseite zu. Die entgegengesetzte Seite wurde durch eine Luftziegelmauer abgeschlossen, in welcher es weder Thür noch sonstige Öffnung gab. Als der Jäger an dieselbe klopfte, klang sie dünn und hohl. Es befand sich also hinter ihr
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