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Der Wanderchirurg

Der Wanderchirurg

Titel: Der Wanderchirurg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serno Wolf
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Prolog

    Das Wimmern der Frau drang durch die Decks-planken hinauf bis zum Achterkastell der großen Galeone. Es war ein Wimmern, wie Kapitän Hippolyte Tag-gart es noch nie gehört hatte: lang gezogen, klagend, immer wieder unterbrochen von einem kurzen, keuchenden Stöhnen. Es erinnerte Taggart an die Laute, die manche Huren ausstießen, wenn sie dem Freier höchste Lust vorgaukeln wollten. Doch Taggart wusste, dass hier nicht ein Akt der Fleischeslust stattfand, sondern vielmehr die Folge davon:
    Im Unterdeck seines Schiffs wurde ein Kind geboren. Taggart wandte sich um und blickte mit grimmiger Miene achteraus. Sein Gesichtsausdruck rief bei manchem seiner Männer noch immer eine Gänsehaut hervor, obwohl jeder wusste, dass Taggart nicht anders dreinblicken konnte. Dafür hatte vor Jahren ein spanisches Schwert gesorgt, das ihm die linke Gesichtshälfte gespalten hatte. Die Wundränder hatten sich beim Zusammenwachsen verzogen, wodurch ihm fortan der linke Mundwinkel herabhing.
    Heute jedoch entsprach seine Miene genau seiner Stimmung. Auf ihrer Reise in die Neue Welt, zu der sie am 28. Januar anno 1556 von Portsmouth ausgelaufen waren, hatten sie vor zwei Tagen die Scilly-Inseln an Steuerbord passiert, und bis dahin war die Fahrt planmäßig verlaufen. Dann aber schien sich alles gegen sie verschworen zu haben. Das Wetter war umgeschlagen, schwarze Wolken hatten sich am Horizont zusammengeballt. Stürmische Böen aus West hinderten sie seitdem hartnäckig daran, sich von der französischen Küste freizusegeln. Ihm war nichts anderes übrig geblieben, als so hoch wie irgend möglich an den Wind zu gehen, um wenigstens Kurs Südwest zu halten - immer in der Hoffnung, dem Sturm davon zu segeln und ablandigen Wind zu erwischen. Doch sie waren jetzt schon fast auf Höhe von La Rochelle, und wenn das so weiterging, würden sie an der nordspanischen Küste zerschellen.
    Taggart schnaufte verächtlich. Die Galeone, die er befehligte, war kaum besser zu segeln als das Nachtgeschirr einer alten Jungfer. Das Schiff, das man vor kurzem in Thunderbird umgetauft hatte, war zwar riesig in seinen Ausmaßen, aber wie alle in Spanien gebauten Galeonen auch äußerst hochbordig, mit schwerem Kastell auf dem Vor-und Achterschiff. Das hatte zur Folge, dass es bei rauem Seegang wie ein Rohr im Winde schwankte und schlecht auf Kurs zu halten war.
    Doch Taggart hatte sich sein Schiff nicht aussuchen können. Nachdem bei der Admiralität in London wieder einmal Ebbe in der Kasse geherrscht hatte, war es ihm wie vielen seiner Marinekameraden ergangen: Man hatte sie vorübergehend ausgemustert und auf Halbsold gesetzt. So war er froh gewesen, diesen Posten überhaupt bekommen zu haben. Maggy und die Kinder zu Hause in Cowes auf der Isle of Wight mussten etwas zu beißen haben, und überhaupt waren die Zeiten nicht rosig. Wieder erklang das Wimmern.
    Eine Frau an Bord!, dachte Taggart zornig.
    Er bildete sich zwar ein, nicht abergläubisch zu sein, aber er hatte trotzdem ein ungutes Gefühl dabei. Frauen an Bord zogen nichts als Ärger nach sich. Und die Frau, die jetzt da unten ihrer schwersten Stunde entgegensah, war dafür der beste Beweis. Abermals das Wimmern.
    Taggart musste zugeben, dass die Frau ausgesehen hatte wie eine richtige Lady, als sie vor wenigen Tagen an Bord gekommen war, auch wenn sie, wie Lord Pembroke betont hatte, weder seine Gattin war noch sonst irgendwie mit ihm verwandt. Aber wer war die Lady dann? Eigentlich eine krasse Unhöflichkeit des Lords, sie ihm nicht vorgestellt zu haben! Und schwanger war sie auch noch!
    Taggart zuckte mit den Schultern und beschloss, sich wieder seinen Pflichten zu widmen. Aus steifen Böen war in der letzten halben Stunde ein ausgewachsener Sturm geworden. Ihm davonzusegeln schien aussichtslos. Jetzt durfte keine Zeit mehr vergeudet werden. »Mister Gordon!
    Mister Loom!«
    »Sir?« Zwei Männer, die in respektvollem Abstand an der Querreling gestanden hatten, eilten herbei und nahmen Haltung an. Sie wussten, dass Taggart auf strenge Disziplin achtete und niemals ein Fehlverhalten durchgehen ließ, auch bei Offizieren nicht. Gordon, der Erste Offizier, war der Kleinere von beiden, ein drahtiger Mann mit flachsblondem Haarschopf und hektischen Bewegungen. Loom, der Segelmeister, war das genaue Gegenteil: groß, schwer, mit gewaltigem Brustkorb, über dem sich ein salzfleckiges Lederwams spannte.
    »Mister Loom, was haltet Ihr von der Lage? Werden wir dem Sturm noch entwischen

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