Safa: Die Rettung der kleinen Wüstenblume
im Hotel sind, bringe ich dir die Sachen aufs Zimmer.«
»Danke dir.«
Behutsam faltete ich den Brief zusammen und steckte ihn in die linke Innentasche meiner Jacke, ganz nah bei meinem Herzen, das er gerade zutiefst berührt hatte.
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1.
Die Botschaft
M eine Kehle ist wie zugeschnürt, ich ringe nach Luft. Meine Hände beginnen zu zittern, werden nass, suchen in den Armlehnen des grauen Ledersessels Halt. Ich will raus hier, will nicht sehen, was gleich zu sehen sein wird, will bloß noch verschwinden. Zu oft schon hatte ich diese Bilder vor Augen, und ebenso oft habe ich sie wieder verdrängt. Aber wieder einmal werde ich nicht wegsehen können. Meine Augen beginnen zu brennen. Ich spüre, wie das Blut in meinen Schläfen pulsiert, als würde mein Kopf jeden Augenblick platzen. Ich habe Todesangst. Der abgedunkelte Saal scheint immer kleiner und enger zu werden. Ich bin gefangen, gefangen im Gestern, im Heute und in dem, was unaufhaltsam auf mich zukommt.
Dann ein gellender Schrei. Er hallt durch den Konferenzraum, geht durch Mark und Bein. Vor meinen Augen erscheint das schmerzverzerrte Gesicht eines kleinen Mädchens. Ein Mädchen, wie ich es selbst einmal war. Blut, überall Blut. Der abgebrochene Ast eines Dornbusches. Knöcherne, zerfurchte, grobe Hände, die messerscharfe Dornen aus dem knorrigen Ast brechen. Das Gesicht einer alten Hexe. Zerstörerisch, verbissen, hässlich, mit einem Blick, dessen Kälte mir Schauer über den Rücken treibt. Zwei Hände packen die Beine des kleinen Geschöpfes, reißen sie brutal auseinander.
Es sind die Hände der Mutter, die tut, was sie glaubt, tun zu müssen. Unnachgiebig und entschlossen. Sie wird das Leben ihrer kleinen Tochter für immer zerstören. Was geht in ihrem Kopf wohl vor, während sie das Mädchen festhält? Es auf die Schlachtbank führt. Wie kann sie ihrem eigenen Kind nur etwas so Grausames antun? Ihrem eigenen Fleisch und Blut. Warum nimmt sie ihre Tochter nicht und läuft mit ihr davon? Sie hat doch bereits eine Tochter verloren, die an den Schnitten und Stichen der Mörderin verblutet ist. Und jetzt? Wird dieses Mädchen überleben?
Was wird sie später einmal sagen, wenn ihre erwachsene Tochter sie fragen wird, warum man ihr dies angetan hat? Dass es Allahs Wille sei? Dass die Tradition ihres Volkes es verlange? Dass sie nur so eine gute, treue und reine Ehefrau sein könne? Dass man ansonsten nie einen Ehemann für sie gefunden hätte, der einen angemessenen Brautpreis für sie bezahlt? Dass dies zu ihrer eigenen Sicherheit geschehen sei? Dass man es in ihrem Stamm bisher immer so gemacht habe und auch künftig so machen werde? Oder dass Frau zu sein nun mal bedeute, zu leiden und sich zu unterwerfen.
Eine unendliche Wut steigt in mir auf. Tränen des Zornes und der Verzweiflung schießen mir in die Augen, strömen mir unaufhaltsam übers Gesicht. Ich habe nur noch einen Gedanken: Das muss aufhören! Das muss für alle Zeit aufhören!
Die Lichter im Sitzungssaal des Berlaymont-Gebäudes in Brüssel gingen an. Schnell wischte ich mir die Tränen von den Wangen und sah mich um. Ich war auf einer internationalen Konferenz gegen weibliche Genitalverstümmelung, zu der mich Viviane Reding, die Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, eingeladen hatte.
Die grausame Beschneidungsszene aus meinem Film
Wüstenblume
leitete die Tagung ein. EU -Kommissare, Minister, Abgeordnete, Vertreter diverser Non-Profit-Organisationen und Journalisten blickten betroffen auf die Leinwand über mir. Sie alle kannten mein gleichnamiges Buch, in dem ich 1998 über mein eigenes Martyrium als fünfjähriges Mädchen und meine Flucht von zu Hause erzählt hatte. Viele der Anwesenden hatten es gelesen, einige von ihnen hatten auch den Film gesehen, der im Jahr 2009 in die Kinos gekommen war. Dennoch standen jedem einzelnen Entsetzen und Betroffenheit deutlich ins Gesicht geschrieben. Ich fühlte, dass die heftigsten Bilder des Films die Menschen im Saal tief bewegt hatten.
Schweigend verfolgten alle, wie ich zurück ans Rednerpult trat. Ich brauchte einige Momente, um mich zu fangen und die grausamen Szenen, die mich und mein Leben für immer geprägt haben, einmal mehr zu verdrängen.
»Hier, Waris.« Joanna reichte mir von ihrem Platz aus der ersten Reihe ein Taschentuch.
Sie war inzwischen weitaus mehr als meine Assistentin, Managerin und rechte Hand. Joanna war im Laufe der gemeinsamen Jahre und unseres gemeinsamen Kampfes gegen Female Genital
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