Safa: Die Rettung der kleinen Wüstenblume
dem Gang vor dem Sitzungssaal umarmte mich Joanna innig. Ich schwieg. Immer noch war ich völlig aufgewühlt von meinem persönlichen Horrorfilm, der eben gezeigt worden war, und von dem Antlitz der Tatenlosigkeit, in das ich hier einmal mehr hatte blicken müssen.
Entkräftet und müde stiegen wir kurz darauf ins Taxi, das uns zu unserem Hotel brachte.
»Ich hätte diese Szene nicht zeigen sollen«, seufzte ich im Auto. »Sie wühlt mich jedes Mal aufs Neue viel zu sehr auf. Ich erkenne mich in der kleinen Safa wieder. Außerdem ist der Moment so glaubwürdig eingefangen, dass selbst ich die Bilder für einen kurzen Augenblick für echt halte.«
Joanna blickte mich verständnisvoll an. Schon oft hatten wir darüber gesprochen, dass mich der Film seelisch in meine Kindheit zurückversetzte. Zurück in die somalische Wüste, die für mich der schönste Ort auf Erden gewesen war. Oft hatten wir Hunger gelitten und kaum genug Wasser zu trinken gehabt. Trotzdem war ich glücklich gewesen unter dem schier endlosen Himmel. Ich kannte keine Angst, obwohl in der Wüste unzählige Gefahren lauerten. Denn meine Eltern hatten mich gelehrt, sie zu erkennen und mit ihnen umzugehen. In meiner Wüste kannte ich mich aus. Nie hätte ich sie sonst mit nur dreizehn Jahren allein durchqueren können, um der Heirat mit einem alten Mann und damit meinem Schicksal zu entfliehen.
Ja, ich war stets eins mit der Wüste gewesen. Hatte meine Heimat geliebt. Ebenso meine Eltern, denen ich blind vertraut hatte. Jedenfalls bis zu jenem Tag in meinem fünften Lebensjahr, der mein Dasein auf so grausame, blutige Art für immer veränderte. Jenen Tag, an den ich, wann immer ich mir den Film ansehe, zurückversetzt werde.
»Waris, es war richtig, diese Szene zu zeigen«, antwortete Joanna. »Erinnere dich, als du damals dein Einverständnis für die Verfilmung deines Buches gegeben hast, hast du darauf bestanden, dass die Beschneidungsszene nicht gestrichen wird. Sie sollte den Menschen die Augen öffnen. Darüber hinaus«, fuhr sie fort, »hast du ein kleines Mädchen, Safa, durch diesen Film vor der Genitalverstümmelung bewahrt.«
Instinktiv griff ich in meine Jackentasche, um sicherzugehen, dass sich Safas Brief immer noch darin befand.
»Ich weiß, du bist in der muslimischen Welt aufgewachsen«, sagte Joanna, »trotzdem will ich dir eine Weisheit aus dem jüdischen Talmud nahelegen.« Sie holte tief Luft und fuhr fort: »›Nur für diesen Zweck wurde der Mensch erschaffen: zu lehren, wer eine einzige Seele zerstört, zerstört die ganze Welt. Und wer eine einzige Seele rettet, rettet die ganze Welt.‹«
Meine Augen füllten sich mit Tränen. Bevor Joanna etwas davon mitbekommen konnte, schloss ich sie fest in die Arme und küsste sie auf die Wange. Seit vielen Jahren teilten wir Freude und Leid miteinander. Sie war immer für mich da.
Dann ließ ich sie laufen, meine Tränen. Tränen der Rührung, Tränen des Glücks.
Im Hotel angekommen, zog ich meine Jacke aus und holte das klein zusammengefaltete gelbliche Papier aus der Innentasche. Erschöpft ließ ich mich auf das riesige, weiche Bett fallen. Ich konnte es kaum erwarten, die Zeilen der kleinen Safa noch einmal zu überfliegen. Als könnte sie meine Gedanken lesen, klappte Joanna den Laptop auf, den sie schon am Vortag auf dem Schreibtisch in meinem Zimmer aufgebaut hatte.
»Was machst du?«, fragte ich.
»Ich will für dich das neueste Fotomaterial aus Dschibuti heraussuchen, das unsere Mitarbeiterin uns geschickt hat. Es sind auch einige Videoaufnahmen dabei.«
Hastig setzte ich mich auf. »Bitte zeig mir alle Fotos. Ich möchte unbedingt auch die Videos von Safa sehen!«
Joanna stellte die Box mit dem Material auf meinen Nachttisch und legte eine DVD in den Laptop ein. »Waris, ich bin hundemüde und gehe rüber in mein Zimmer. Ich möchte noch meinen Sohn in Wien anrufen, ehe ich mich schlafen lege. Ich hoffe, du kommst auch ohne mich zurecht. Falls du noch etwas brauchen solltest, ruf mich bitte an.«
Nachdem sie die Tür hinter sich zugezogen hatte, glitt ein Lächeln über mein Gesicht. Joanna, meine Seelenverwandte, die mich seit elf Jahren als Managerin und Freundin unterstützte und beriet – ich war so unendlich dankbar, sie an meiner Seite zu haben. Jederzeit hatte sie ein offenes Ohr für meine Sorgen und zeigte stets Verständnis für meine oft recht unbequeme Impulsivität. Ob ich für sie je so eine Stütze sein konnte wie sie für mich? Ob sie
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