Safa: Die Rettung der kleinen Wüstenblume
wusste, wie sehr sie und ihre Stärke mich tatsächlich beeindruckten?
Joanna war in Danzig aufgewachsen, in der Zeit des Kommunismus. Da ihre Eltern sich gegen das damalige Regime aufgelehnt hatten, war ihre Familie arm und musste viele Nachteile in Kauf nehmen. Joanna hatte eine harte Kindheit voller Entbehrungen hinter sich. Als junge Frau verließ sie Polen und ging nach Österreich, um dort zu studieren, wo sie anschließend auch eine Stelle fand. Anfangs konnte sie kein Wort Deutsch und musste sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten, bis sie die Sprache erlernt hatte. Sie schloss ihr Studium ab und wurde bald eine erfolgreiche Geschäftsfrau. Vielleicht war es genau das, was uns beide so verband. Joannas Geschichte erinnerte mich an meine Zeit in London, als mich meine Verwandten in der somalischen Botschaft wie eine Sklavin ausgebeutet hatten. An die schlimme Zeit, als ich auf der Straße gelebt hatte, ohne auch nur ein Wort Englisch zu können. An die Zeit, als ich lediglich einen Job als Putzfrau bei McDonald’s ergattert hatte. Joanna hatte ähnliche Erfahrungen gemacht.
Die Erfahrung, ausgebeutet zu werden, die Sprache in einem fremden Land nicht zu beherrschen, sich ohne Hilfe durchschlagen zu müssen, Hindernisse zu überwinden und nie aufzugeben. Nicht aufzugeben, sondern weiterzukämpfen, egal wie hoffnungslos die Situation auch scheint. Den steinigen Weg immer weiterzugehen, obwohl einem das Heimweh manchmal fast das Herz zerreißt. Zweifelsohne verbanden Joanna und mich diese Erfahrungen, die uns oft schwach, in vielen Situationen aber auch so stark machten.
Gedankenversunken schlüpfte ich unter die Bettdecke, stellte den Laptop auf meinen Schoß und begann, mich durch die Dateien zu klicken. »Safa und ihre Familie« war einer der vielen digitalen Ordner überschrieben. Unweigerlich begann mein Herz schneller zu schlagen. Ein Doppelklick – und da waren sie, die Bilder aus der Ferne, die einst auch meine Heimat gewesen war.
Auf dem ersten Bild war Safas Familie zu sehen. Den hageren, kleinen Mann mit den dürren Beinen und dem ernsten Blick erkannte ich sofort als Safas Vater. Er trug einen Schnurrbart und zeigte seine gelben Zähne. Eine dicke Ader zeichnete seine Stirn. Sein Unterhemd steckte nur halb in der verwaschenen Hose, an der der oberste Knopf fehlte. Neben ihm stand Safas Mutter, eine rundliche Frau in einem roten Hijab, bedruckt mit weißen Blumen, wie viele somalische Frauen ihn tragen. Ihre mandelförmigen Augen blickten unsicher in die Kamera, und sie lächelte leicht. In den Händen hielt sie ein Päckchen, das ich vor einigen Wochen nach Dschibuti geschickt hatte. Darin befanden sich kleine Schmuckstücke, die eine befreundete Designerin für mich angefertigt und die ich den Frauen der Familie geschenkt hatte.
Vor den beiden Eltern standen Safas Brüder Amir und Nour, die man auf den ersten Blick für Zwillinge halten musste. Nour, der kleinere der beiden, trug ein blau-weißes, viel zu großes T-Shirt mit der Aufschrift Clone Trooper aus dem Film
Star Wars.
Schüchtern, aber umso herzerwärmender blickte er direkt in die Kamera. Amir trug ein blaues, zerrissenes T-Shirt mit arabischer Aufschrift. Im Gegensatz zu seinem Bruder hatte er einen grimmigen Gesichtsausdruck. Mittendrin stand die kleine Safa, mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht – genau so, wie ich sie in Erinnerung hatte. Mit beiden Händen hielt sie die kleine rosa Schminkschatulle fest, die ich ihr geschickt hatte. Ihren Hals säumte eine Kette, von der jener Glücksbringer baumelte, den ich Safa einst geschenkt hatte. Es war die Hand Fatimas, die das Mädchen vor allem Bösen beschützen sollte.
Wie gut, dass sie den Glücksbringer bei sich trägt, dachte ich spontan. Ich konnte es mir nicht erklären, aber beim Anblick dieses gestellten Fotos lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. War es die alte, mir unbekannte Frau am Bildrand, die mich derart irritierte? Waren es ihr grimmiger Blick und ihre großen, knochigen Hände, die sich in den kleinen Körper eines höchstens einjährigen Mädchens gruben, das sie an sich drückte? Je länger ich auf das Bild starrte, desto klarer wurde mir: Irgendetwas stimmte hier nicht. Nur was hatte diese Familie zu verbergen?
Neugierig durchforstete ich daraufhin alle Fotos von Safa. Das süße Mädchen mit den großen, runden Augen und dem zerzausten schwarzen Haar wirkte auf allen Aufnahmen fröhlich und unbeschwert. Ihren Familienmitgliedern hingegen
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