Sagen des klassischen Altertums
geleite mich zum Zelte deines Herrn.« Hermes, als scheute er sich, ohne Achills Wissen Geschenke zu nehmen, wies die Gabe ab, schwang sich jedoch zu dem Helden in den Wagen, ergriff Zaum und Geißel, und bald hatten sie Graben und Mauer erreicht. Hier fanden sie die Hüter eben mit dem Nachtmahle beschäftigt. Doch ein Wink des Gottes versenkte sie in tiefen Schlaf, und ein Druck seiner Hand schob den Riegel vom Tore. So gelangte Priamos mit seinem Lastwagen glücklich vor die Lagerhütte des Peliden, die hoch aus Balken gebaut und mit Schilf bedeckt, auch mit einem geräumigen Hofe umgeben war, den eine dichte Reihe von Pfählen umschloß. Nur ein einziger tannener Riegel verschloß die Pforte, aber so schwer, daß nur drei starke Griechen ihn vor- oder zurückschieben konnten; nur Achill selbst brauchte keine Beihilfe dazu. Jetzt aber öffnete Hermes das Tor ohne Mühe, stieg vom Wagen, gab sich als Gott zu erkennen und verschwand, nachdem er dem Greis geraten, des Helden Knie zu umfassen und ihn bei Vater und Mutter zu beschwören.
Priamos sprang jetzt auch vom Wagen und übergab dem Idaios Rosse und Maultiere. Er selbst ging geraden Weges auf die Wohnung zu, wo Achill saß. Er traf ihn zu Hause, getrennt von den Seinigen, nur von den Helden Atomedon und Alkimos bedient, eben von der Mahlzeit ruhend, und die Tafel stand noch vor ihm. Unbemerkt trat der erhabene Greis ein, eilte auf den Peliden zu, umschlang seine Knie, küßte ihm die Hände, die entsetzlichen, die ihm so viele Söhne gemordet hatten, und sah ihm ins Antlitz. Staunend betrachteten ihn Achill und seine Freunde, da fing der Greis an zu flehen: »Göttergleicher Achill, gedenke deines Vaters, der alt ist wie ich, vielleicht auch bedrängt von feindlichen Nachbarn, in Angst und ohne Hilfe wie ich. Doch bleibt ihm von Tag zu Tag die Hoffnung, seinen geliebten Sohn von Troja heimkehren zu sehen. Ich aber, der ich fünfzig Söhne hatte, als die Argiver herangezogen kamen, und davon neunzehn von 212
Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
einer Gattin, bin der meisten in diesem Kriege beraubt worden, und zuletzt durch dich des einzigen, der die Stadt und uns alle zu beschirmen vermochte. Darum komme ich nun zu den Schiffen, ihn, meinen Hektor, von dir zu erkaufen, und bringe unermeßliches Lösegeld. Scheue die Götter, Pelide, erbarme dich mein, gedenke deines eigenen Vaters! Ich bin des Mitleids noch werter: dulde ich doch, was noch kein Sterblicher geduldet hat, und drücke die Hand an die Lippe, die meine Kinder mir getötet.« So sprach er und erweckte dem Helden sehnsüchtigen Gram um seinen Vater, daß er den Alten sanft bei der Hand anfaßte und zurückdrängte. Da gedachte der Greis seines Sohnes Hektor, wand sich zu den Füßen des Peliden und fing laut an zu weinen; Achill aber weinte bald über seinen Vater, bald über seinen Freund, und das ganze Zelt erscholl von Jammertönen. Endlich sprang der edle Held vom Sessel empor, hub den Greis voll Mitleid mit seinem grauen Haupt und Bart, an der Hand auf und sprach: »Armer, fürwahr, viel Weh hast du erduldet, und jetzt, welch ein Mut so allein zu den Schiffen der Danaer zu wandeln und einem Manne vor die Augen zu treten, der dir so viele und so tapfere Söhne erschlagen hat! Du mußt ja ein eisernes Herz im Busen tragen! Aber wohlan, setz dich auf den Sessel, laß uns den Kummer ein wenig beruhigen, sosehr er uns von Herzen geht; wir schaffen ja doch nichts mit unserer Schwermut. Das ist nun einmal das Schicksal, das die Götter den elenden Sterblichen bestimmt haben, Gram zu erdulden, während sie selbst ohne Sorge sind.
Denn zwei Fässer stehen an der Schwelle von Zeus' Behausung, das eine voll Gaben des Unglücks, das andere voll Gaben des Heils. Wem der Gott vermischt austeilt, den trifft abwechselnd bald ein böses, bald ein gutes Los; wem er nur Weh austeilt, den stößt er in Schande, der wird von herzzerfressender Not über die Erde hin verfolgt. So schenkten die Götter dem Peleus zwar herrliche Gaben: Habe, Macht, ja selbst eine Unsterbliche zur Gattin; doch hat ihm ein Himmlischer auch Böses gegeben, denn ihm ward ein einziger Sohn, der frühe hinwelken wird, der des Alternden so gar nicht pflegen kann; denn hier in weiter Ferne sitze ich vor Troja und betrübe dich und die Deinigen. Auch dich, o Greis, priesen die Völker vormals glückselig, jetzt aber haben die Olympischen dir dieses Leid gesandt, und seitdem tobt nur Schlacht und Mord um deine Mauern. So duld es
Weitere Kostenlose Bücher