Sagen des klassischen Altertums
und das grausame Verhängnis lauert schon an deiner Seite. Höre denn die Worte des Zeus, die ich dir melde: Er und alle Götter zürnen dir, daß du Hektors Leiche mißhandelst und bei den Schiffen zurückhältst.
Wohlan, entlaß ihn, mein Sohn, gegen reiche Lösung.« Achill schaute auf, sah der Mutter ins Gesicht und sprach: »So sei es; was Zeus und der Rat der Himmlischen gebieten, muß geschehen. Wer mir die Lösung bringt, soll den Leichnam empfangen.« Zur selben Zeit schickte Zeus die schnelle Götterbotin Iris in die Stadt des Priamos mit seinen Aufträgen. Diese fand, dort angekommen, nichts als Geheul und Wehklage.
Im Vorhofe saßen um den Vater im Kreise die Söhne, sich die Gewande feucht weinend; in der Mitte der Greis, straff in den Mantel gehüllt, Staub auf Nacken und Haupt gestreut. In den Wohnungen lagen Töchter und Schwiegertöchter auf den Knien und jammerten um die gemordeten Helden. Da trat plötzlich die Botin von Zeus vor den König und begann mit leiser Stimme, daß ihm ein Schauer durch die Glieder fuhr: »Fasse dich, Sohn des Dardanos, verzage nicht; ich habe dir kein übles Wort zu verkündigen. Zeus erbarmt sich deiner: er gebietet dir, zu Achill zu gehen und ihm Geschenke darzubringen, womit du den Leichnam deines Sohnes lösen sollst. Du allein sollst gehen, von keinem andern Trojaner begleitet als von einem der älteren Herolde, der dir den Wagen mit den Maultieren lenken und dich mit dem Toten wieder zur Stadt zurückführen kann. Fürchte weder Tod noch einen andern Schrecken; Zeus gesellt dir den mächtigen Argoswürger Hermes zum Schutze zu, daß er dich geleite, zum Peliden führe und auch dort beschirme.
Doch ist Achill selbst ja nicht vernunftlos und kein blinder Frevler; er wird von selbst des Flehenden schonen und alles Leid von dir abwehren.«
Priamos vertraute den Worten der Göttin, befahl seinen Söhnen, den Wagen mit dem Maultiergespanne zu rüsten, und stieg dann in die duftige, mit Zedernholz getäfelte Kammer hinab, in welcher viel Kostbarkeiten aufbewahrt lagen. Dorthin berief er seine Gemahlin Hekabe und sprach zu ihr: »Armes Weib, wisse, daß mir Botschaft von Zeus kam: ich soll zu Achill nach den Schiffen wandeln, sein Gemüt mit Geschenken versöhnen und den Leichnam unseres lieben Sohnes Hektor einlösen. Wie deucht dir solches in deinem Herzen? Mich selbst, ich berge dir es nicht, drängt ein heftiger Trieb, nach den Schiffen zu gehen.«
So sprach der Greis; aber seine Gemahlin erwiderte ihm schluchzend: »Wehe mir, Priamos, wohin ist dir dein einst so gepriesener Verstand entflohen? Welch ein Gedanke: du, der Greis, allein zu den Schiffen der Danaer zu wandeln und dem Manne vor Augen zu treten, der dir so viel tapfere Söhne erschlagen hat!
Meinst du, der Falsche, Blutgierige werde Mitleid mit dir haben, wenn er dich erblickt? Viel besser, wir beweinen ihn fern, zu Hause, ihn, dem das Geschick schon bei der Geburt bestimmt hat, von den Hunden verzehrt zu werden!« »Halte mich nicht«, antwortete Priamos entschlossen, »werde mir nicht selbst im Hause zum drohenden Unglücksvogel; und erwartete mich auch der Tod bei den Schiffen: der Wüterich mag mich ermorden, wenn ich nur, mein Herz mit Tränen sättigend, den geliebten Sohn in den Armen halten darf.« Unter diesen Worten schlug er den Deckel von den Kisten und wählte zwölf köstliche Feiergewande, zwölf Teppiche, ebensoviel Leibröcke und prächtige Mäntel aus. Dann wog er zehn Talente Goldes dar, erlas weiter vier schimmernde Becken, zwei Dreifüße; ja selbst einen köstlichen Becher, den ihm die Thrakier geschenkt hatten, als er zu ihnen auf Gesandtschaft kam, sparte der Greis nicht. So begierig war er, seinen trautesten Sohn zu lösen! Dann scheuchte er sämtliche Trojaner, die ihn aufhalten wollten, aus der Halle und bedrohte sie: »Ihr Nichtswürdigen, habt ihr nicht Gram im Hause genug, daß ihr herkommt, um auch mich zu bekümmern? Achtet ihr es für etwas Kleines, daß Zeus den Jammer über mich verhängte, meinen tapfersten Sohn zu verlieren? Doch ihr werdet's schon erfahren. Möchte nur ich in den Hades hinuntergehen, eh ich die Trümmerhaufen eurer Stadt schaue!« So scheuchte er sie mit dem Stabe hinaus; dann rief er scheltend seine Söhne: »Ihr Schändlichen, Untüchtigen, lägt ihr mir doch alle an Hektors Statt getötet bei den Schiffen! Alle Guten sind tot, nur die Schandflecke sind übrig, Lügner, Gaukler, Reigentänzer, die im Fette des Volkes schwelgen! Werdet ihr mir
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