Sagen des klassischen Altertums
dann das Grab des Achill. Odysseus sagte jedoch seinem Sohne nicht, wessen der Grabhügel sei, sondern schweigend fuhren sie an dem Eilande Tenedos vorüber und weiter, bis in die Nähe von Troja. Sie kamen an den Strand, als gerade der Kampf gegen Eurypylos bei der Mauer, welche das Bollwerk der Schiffe bildete, am heftigsten war, und jetzt hätte sie der Mysier niedergerissen, wäre nicht der eben landende Diomedes über das Fahrzeug an den Strand gesprungen und hätte die Schar aus dem Schiffe mit mutigem Rufe nach sich gezogen.
Ohne Verzug eilten sie nach dem Zelte des Odysseus, das dem Strande zunächst stand und wo sich teils dessen eigene Waffen, teils viele erbeutete Rüstungen befanden. Von diesen wählte sich der eine die, der andere jene aus. Neoptolemos aber – so dürfen wir ihn von jetzt an heißen – hüllte sich in die Waffen seines Vaters Achill, welche den andern allen zu groß waren; ihn selbst aber drückte weder der Panzer noch der Helm; Speer, Schwert und Schild schwang er mit Leichtigkeit, und in allem ähnlich seinem Vater, stürzte er in den hitzigsten Kampf hinaus und alle mit ihm gelandeten Helden ihm nach. Jetzt erst begannen die Trojaner wieder von der Mauer zu weichen und drängten sich, von allen Seiten bestürmt und beschossen, um den Sohn des Telephos zusammen, wie furchtsam Kinder bei dem Rollen des Donners zu ihrem Vater fliehen. Aber jedes Geschoß, das aus der Hand des Neoptolemos flog, sandte den Tod auf die Häupter der Feinde, und die verzweifelnden Trojaner glaubten den riesigen Achill selbst in seiner Rüstung vor sich zu sehen. Sein Geist ruhte auf ihm; auch focht er unter dem Schirm der Göttin Athene, der Freundin seines Vaters; und wie Schneeflocken den Felsen umfliegen, so flatterten die Geschosse um ihn her, ohne ihm die Haut zu ritzen. Ein Schlachtopfer um das andere brachte er dem gefallenen Vater dar. Zwei Söhne des reichen Meges, Zwillingsbrüder, raffte, wie eine Stunde sie geboren, so jetzt eine Stunde dahin, denn den einen traf Neoptolemos mit dem Speere in das Herz, den andern an das Haupt mit einem mächtigen Steine, so daß der schwere Helm zertrümmert wurde und im Schädel das Gehirn sich mischte. Noch unzählige andere Feinde fielen rings um sie her, bis endlich gegen Abend Eurypylos und das feindliche Heer den Rückzug vor dem Sohne des Achill antraten.
234
Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
Als Neoptolemos nun vom Kampfe ruhete, kam auch der greise Held Phönix, der Freund seines Großvaters Peleus und der Erzieher seines Vaters Achill, auf den jungen Helden zu und betrachtete voll Verwunderung die Ähnlichkeit mit dem Peliden. Schmerz und Freude bestürmten ihn zugleich: jener bei der Erinnerung an den Tod seines Pflegesohnes, diese, weil er dessen kräftigen Sprößling vor sich sah. Ein Tränenstrom quoll aus den Augen des Greises, er umarmte den herrlichen Jüngling, küßte ihm Haupt und Brust und rief: »O Sohn, mir ist, als wandle dein Vater, um den ich mich täglich abhärme, wieder lebendig unter uns! Doch stille! es darf der Gram um den Vater dir jetzo den Mut nicht schwächen; vielmehr sollst du, das Herz voll Zornes, den Griechen zu Hilfe kommen und den grimmigen Sohn des Telephos töten, der uns soviel Schaden getan. Übertriffst du ihn doch an Kraft so weit, als dein Vater seinen Vater übertraf!«
Bescheiden erwiderte darauf der Jüngling: »Wer der Tapferste sei, werden erst Feldschlacht und Schicksal entscheiden, o Greis!« Mit diesen Worten wandte er sich nach den Schiffen und dem Lager zurück, denn die Nacht war eingebrochen, und die Helden kehrten um vom Streite nach ihren Zelten.
Bei Tagesanbruch begann der Kampf aufs neue. Lanze mit Lanze, Schwert mit Schwert kreuzte sich, und ein Mann drang auf den andern ein. Lange war das Gefecht unentschieden, und auf beiden Seiten mordeten und fielen die Helden. Dem Eurypylos ward ein Freund erschlagen; darüber verdoppelte sich seine Wut, und er warf die Achajer nieder, wie man Bäume in dichten Waldungen zu Haufen fällt, so daß die Stämme zerrissene Schluchten anfüllen. Endlich aber trat ihm Neoptolemos entgegen, und beide schüttelten ihre mächtigen Lanzen in der Rechten. »Wer bist du, Jüngling, woher bist du gekommen, mich zu bekämpfen?«
rief zuerst Eurypylos seinem Gegner zu, »fürwahr, dich reißt dein Geschick zur Unterwelt hinab!«
Neoptolemos erwiderte: »Warum willst du meine Abstammung wissen wie ein Freund, da du doch ein Feind bist? So wisse
Weitere Kostenlose Bücher