Sagen des klassischen Altertums
denn, ich bin der Sohn des Achill, der einst deinen Vater verwundete; die Rosse meines Wagens sind die windschnellen Kinder der Harpyien und des Zephyros, die selbst über das Meer dahinrennen; die Lanze, vom Scheitel des hohen Berges Pelion stammend, ist die Lanze meines Vaters; die sollst du jetzt erproben!« So sprach der Held, sprang vom Wagen und schüttelte den Speer. Von der andern Seite hob Eurypylos einen gewaltigen Stein vom Boden auf und warf ihn nach dem goldenen Schilde seines Feindes; doch der Schild erzitterte nicht einmal. Wie zwei Raubtiere drangen beide jetzt aufeinander ein, und rechts und links von ihnen wogte die Feldschlacht in langen Reihen. Jene aber zerstießen einander die Schilde und trafen bald die Schienen, bald die Helme; ihre Kraft wuchs mit dem Kampfe, denn beide stammten von Unsterblichen ab. Endlich gelang es der Lanze des Neoptolemos, den Weg in die Kehle des Gegners zu finden: ein purpurner Blutstrom drang aus der Wunde, und einem entwurzelten Baume gleich stürzte Eurypylos entseelt zu Boden.
Nach seinem Falle hätten sich die Trojaner vor Neoptolemos wie Kälber vor dem Löwen hinter ihre Mauer geflüchtet, wenn nicht Ares, der schreckliche Kriegsgott selber, der den Trojanern Beistand verleihen wollte, unbemerkt von den andern Göttern, den Olymp verlassen und mit seinen feuerschnaubenden Rossen den Kriegswagen mitten ins Schlachtgetümmel hineingetrieben hätte. Hier schwang er seinen mächtigen Speer und ermahnte die Troer mit lautem Zurufe, den Feind zu bestehen. Diese staunten, als sie die göttliche Stimme hörten; denn den Gott selbst, den ein Nebel unsichtbar machte, sahen sie nicht. Der Sohn des Priamos, der gepriesene Seher Helenos, war der erste, dessen Scharfsinn den Gott erkannte und der seinen Leuten zurief. »Bebet nicht! Euer Freund, der mächtige Kriegsgott, ist selbst mitten unter euch: habt ihr den Ruf des Ares nicht vernommen?« Jetzt hielten die Trojaner wieder stand, und das Gemetzel begann auf beiden Seiten von neuem. Ares hauchte den Trojanern gewaltigen Mut ein, und zuletzt wankten die Reihen der Griechen. Nur den Neoptolemos vermochte er nicht zu schrecken; dieser kämpfte mutig fort und erschlug jetzt diesen, jetzt jenen im Streite. Der Gott zürnte über seine Kühnheit, und schon war er im Begriffe, die Wolke, die ihn umgab, zerreißend, dem jungen Helden sichtbar im Kampfe entgegenzutreten, als Athene, die Freundin der Griechen, vom Olymp herunter auf das Schlachtfeld eilte. Die Erde und die Wellen des Xanthos erbebten vor ihrer Ankunft, leuchtende Blitze flogen um ihre Waffen, die Schlangen auf ihrem Gorgonenschilde hauchten Feuer. Und während die Sohlen der Göttin auf dem Boden standen, berührte ihr Helm die Wolken; sterblichen Blicken jedoch blieb sie verborgen. Und jetzt hätte sich ein Zweikampf zwischen den Göttern erhoben, wenn nicht Zeus mit einem warnenden Donnerschlage sie geschreckt hätte. Beide erkannten den Willen des Vaters; Ares zog sich nach Thrakien zurück, Athene wandte sich nach Athen; das Schlachtfeld war den Sterblichen wieder überlassen, und jetzt wich die Stärke von den Trojanern: sie flohen in ihre Stadt zurück, und die Griechen drängten ihnen nach. Von den Mauern herab verteidigten jene tapfer ihre Stadt; dennoch hätten die Danaer die Tore erbrochen, wenn nicht Zeus, der den Willen des Schicksals kannte, die Stadt in Gewölk eingehüllt hätte. Da riet der weise Nestor den Griechen, sich zurückzuziehen, um ihre Toten zu bestatten und vom Kampf auszuruhen.
Am folgenden Tage sahen die Danaer mit Staunen die Burg von Troja wieder unumwölkt in den blauen Morgenhimmel steigen und erkannten in dem Nebel des gestrigen Abends das Wunder des Göttervaters.
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Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
An diesem Tag herrschte Waffenruhe. Die Trojaner benutzten dieselbe, um den Mysier Eurypylos feierlich zu bestatten. Neoptolemos aber besuchte das hohe Grab seines Vaters, küßte die zierliche Säule, die sich darüber erhob, und sprach unter Seufzern und Tränen der Wehmut: »Auch unter den Toten sei mir gegrüßt, mein Vater; denn nie werde ich dein vergessen! O daß ich dich lebend bei den Griechen gefunden hätte! So aber hast du dein Kind nie gesehen und ich den Vater nicht, sosehr ich mich im Herzen nach dir gesehnt habe! Doch noch lebest du in mir und lebst in deinem Speere; beide jagen in der Feldschlacht den Feinden Schrecken ein, und die Danaer sehen mich mit freudigen Blicken an und sagen, ich
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