Sagen des klassischen Altertums
herrlicher Tempel des Meeresgottes Poseidon, wo Seile, Segeltücher, Ruder und andere Schiffsgeräte bereitet und verkauft werden. Denn mit Köcher und Bogen machen sich unsere Phäaken nicht viel zu schaffen, aber tüchtige Seeleute, das sind sie! Wenn wir nun in der Nähe der Stadt sind, dann, guter Fremdling, vermeide ich gerne das lose Geschwätz der Leute, denn dieses Volk ist übermütig; da könnte wohl ein Bauer, der uns begegnet, sagen: ›Was folgt doch der Nausikaa für ein schöner, großer Fremdling? Wo fand sie wohl den auf? Er wird sicherlich ihr Gemahl!‹ Das wäre mir ein herber Schimpf. Gefiele es mir doch an einer Freundin nicht, wenn sie sich, ohne Wissen der Eltern, zu einem Fremden gesellte, vor der öffentlichen Vermählung. Drum, wenn du an ein Pappelgehölz kommst, das der Athene heilig ist und aus dem ein Quell entspringt, der sich durch die Wiese schlängelt, kaum einen Heroldsruf von der Stadt entfernt, dort verweile ein wenig; nur so lange, bis du annehmen kannst, daß wir in der Stadt angekommen sind; dann folg uns nach, du wirst den herrlichen Palast meines Vaters leicht aus den andern Häusern herauskennen. Dort umfasse die Knie meiner Mutter; denn wenn sie dir wohl ist, so darfst du sicher sein, deiner Väter Heimat wieder zu schauen!« So sprach Nausikaa und fuhr auf dem Wagen dahin, doch langsam, daß die Mägde und Odysseus folgen konnten. Am Hain Athenes blieb dann der Held zurück und betete flehend zu Athene, seiner Beschirmerin. Athene hörte ihn auch, nur fürchtete sie die Nähe ihres Bruders Poseidon und erschien ihm deswegen nicht öffentlich in dem fremden Lande.
ODYSSEUS BEI DEN PHÄAKEN
Die Jungfrau war schon in dem Palast ihres Vaters angekommen, als Odysseus den heiligen Hain verließ und gleichfalls den Weg nach der Stadt einschlug. Athene entzog ihm auch jetzt ihre Hilfe nicht. Daß kein mutwilliger Phäake den wehrlosen Wanderer kränken konnte, verbreitete sie, für ihn selbst unbemerkt, rings um ihn her Nacht, und ganz nahe vor den Toren wollte sie es doch nicht lassen, ihm in sichtbarer Gestalt als ein junges Phäakenmädchen, den Wasserkrug an der Hand, zu begegnen. »Töchterchen«, redete der Held sie an, »willst du mir nicht den Weg zur Wohnung des Königes Alkinoos zeigen? Ich bin ein verirrter Fremdling, komme aus fernen Landen und kenne hier niemand.« »Recht gerne, guter Mann«, sagte die Göttin in Mädchengestalt; »mein ehrlicher Vater wohnt ganz nahe dabei. Aber geh nur ganz stille mit mir: die Leute sind hier den Fremden nicht sonderlich gewogen; das kecke Leben zur See macht sie trotzig.«
Unter diesen Worten ging Athene schnell voran, und Odysseus folgte, aber kein Phäake wurde ihn gewahr.
Gemächlich konnte er den Hafen, die Schiffe, die getürmten Mauern der Stadt anstaunen; endlich sprach 284
Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
Athene: »Dies ist, fremder Vater, das Haus des Alkinoos, wandle nur getrost hinein; dem mutigen Manne gelingt alles! Doch eins laß mich dir sagen: Suche vor allen Dingen die Königin auf. Sie heißt Arete und ist die Nichte ihres eigenen Gemahls. Der vorige König nämlich, Nausithoos, ein Sohn Poseidons und der Periböa, der Tochter des Gigantenbeherrschers Eurymedon, hinterließ zwei Söhne, unsern König, Alkinoos, und einen andern, Rhexenor. Der letztere lebte nicht lange und hinterließ eine einzige Tochter; und dies ist unsere Königin Arete. Alkinoos ehrt sie, wie nur irgendein Weib auf der Erde geehrt werden kann, und ebenso verehrt sie auch alles Volk, denn sie ist voll Verstandes und Geistes und weiß selbst Männerzwiste mit ihrer Weisheit zu entscheiden. Wenn du sie gewinnen kannst, so sei getrost.«
So sprach die verstellte Göttin und enteilte. Odysseus stand stille, in Betrachtung des herrlichen Palastes versunken. Das hochragende Haus strahlte wie die Sonne. Tief hinein von der Schwelle erstreckten sich nach beiden Seiten Wände von gediegenem Erz, mit Simsen aus bläulichem Stahl. Die innere Wohnung verschloß eine goldene Pforte; die Pfosten, auf eherner Grundlage ruhend, waren von Silber mit goldenem Kranze, der Ring an der Pforte war von Gold; goldene und silberne Hunde, ein Werk Hephaistos', standen rechts und links, wie Wächter der Königswohnung, aufgepflanzt. Als er in den Saal gekommen war, sah er ringsum Sessel mit feingewirkten Teppichen bedeckt, auf welchen die Fürsten der Phäaken beim Königsmahle zu sitzen pflegten; denn dieses Volk liebte beständig Speise und
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