Sagen des klassischen Altertums
von gesitteten Menschenkindern!‹
So sprach er zu sich, und indem er mit der nervichten Rechten aus dem verwachsenen Gehölz einen dichtbelaubten Zweig abbrach und sein Blöße damit bedeckte, tauchte er aus dem Dickicht hervor, und von der Not gedrängt, erschien er wie ein wilder Berglöwe unter den zarten Jungfrauen. Er war von dem Meeresschlamm noch ganz entstellt: die Mädchen meinten ein Seeungeheuer zu sehen und flüchteten sich, die einen da-, die andern dorthin, auf die hohen waldigen Anhöhen des Gestades. Nur die Tochter des Alkinoos blieb stehen; Athene hatte ihr Mut ins Herz eingeflößt, und sie stand gegen den Fremdling gekehrt.
Odysseus besann sich, ob er die Knie der Jungfrau umfassen oder aus ehrerbietiger Ferne sie anflehen sollte, ihm ein Kleid zu schenken und den Weg nach Menschenwohnungen zu zeigen. Er hielt das letztere für ziemlicher und rief ihr daher von weitem zu: »Seiest du eine Göttin oder eine Jungfrau, schutzflehend nahe ich mich dir! Bist du eine Göttin, so achte ich dich Artemis gleich an Gestalt und Schönheit; bist du eine Sterbliche, so preise ich deine Eltern und deine Brüder selig! Das Herz muß ihnen im Leibe beben über deine Schönheit, wenn sie sehen, wie solch ein herrlich Geschöpf zum Reigentanz einherschreitet. Und wie hochbeglückt ist der, der dich als Braut nach Hause führt! Mich aber sieh du gnädig an, denn ich bin in unaussprechlichen Jammer gestürzt. Gestern sind es zwanzig Tage, daß ich von der Insel Ogygia abgefahren bin; vom Sturm ergriffen, wurde ich auf dem Meer umhergeworfen und endlich als Schiffbrüchiger an diese Küste geschleudert, die ich nicht kenne, wo mich niemand kennt. Erbarme dich mein; gib mir eine Bedeckung für meinen Leib, zeige mir die Stadt, wo du wohnest. Mögen dir die Götter dafür geben, was dein 283
Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
Herz begehrt, einen Gatten, ein Haus, und Frieden und Eintracht dazu!«
Nausikaa erwiderte auf diese Anrede: »Fremdling, du scheinst mir kein schlechter und kein törichter Mann zu sein. Da du dich an mich und mein Land gewendet hast, soll es dir weder an Kleidung noch an sonst etwas mangeln, was der Schutzflehende erwarten kann. Ich will dir auch die Stadt zeigen und den Namen unseres Volkes sagen. Phäaken sind es, die diese Felder und dieses Reich bewohnen; ich selbst bin die Tochter des hohen Königes Alkinoos.« So sprach sie und rief die dienenden Mädchen, indem sie ihnen Mut einflößte und wegen des Fremdlings sie zu beruhigen suchte. Die Mägde aber standen und ermahnten eine die andere, hinzutreten. Endlich gehorchten sie der Fürstin, und nachdem sich Odysseus an einem versteckten Orte des Ufers gebadet, legten sie ihm Mantel und Leibrock, die sie aus den Gewanden hervorsuchten, zur Bedeckung in das Gebüsch. Als der Held sich den Schmutz vom Leibe gewaschen und sich gesalbt hatte, zog er die Kleider an, die ihm die Fürstentochter geschenkt hatte und die ihm wohl zu Leibe saßen. Dazu machte seine Beschützerin Athene, daß er schöner und voller von Gestalt anzuschauen war; von dem Scheitel goß sie ihm schön geringeltes Haar, und Haupt und Schultern glänzten von Anmut.
So in Schönheit strahlend, trat er aus dem Ufergebüsch und setzte sich seitwärts von den Jungfrauen.
Nausikaa betrachtete die herrliche Gestalt mit Staunen und begann zu ihren Begleiterinnen: »Diesen Mann verfolgen gewiß nicht alle Götter. Einer von ihnen muß mit ihm sein und hat ihn jetzt in das Land der Phäaken gebracht. Wie unansehnlich erschien er anfangs, als wir ihn zuerst erblickten, und jetzt wahrhaftig gleicht er den Bewohnern des Himmels selbst! Wohnte doch ein solcher Mann unter unserem Volke und wäre ein solcher mir zum Gemahl vom Geschick erkoren! Aber auf, ihr Mädchen, stärket mir den Fremdling auch mit Trank und Speise!«
Dies geschah, Odysseus aß und trank und labte sich an der lang entbehrten Nahrung.
Hierauf wurde der Wagen mit den gewaschenen und getrockneten Gewanden wieder bedeckt, die Maultiere vorgespannt, und Nausikaa nahm auf dem Wagensitz ihren Platz ein. Den Fremdling aber hieß sie zu Fuße mit den Dienerinnen hinter dem Wagen folgen. »Dies tue«, sprach sie freundlich zu ihm, »solang es durch Wiesen und Äcker geht; bald aber wirst du die Stadt gewahr werden; eine hohe Mauer umschließt sie, ihre beiden Seiten – denn sie liegt ganz am Meere – schließt ein trefflicher Hafen mit schmalem Zugange ein. Dort ist auch ihr Marktplatz und ein
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