Sagen des klassischen Altertums
trank ihn unter Handschlag dem Sieger zu, indem er sagte: »Auf dein Wohlergehen, fremder Vater, mögest du künftig von aller Trübsal frei sein!« Odysseus blickte ihm ernsthaft ins Auge und erwiderte: »Amphinomos, du scheinst mir ein recht verständiger Jüngling zu sein und bist eines angesehenen Mannes Kind. Nimm dir mein Wort zu Herzen! Es gibt nichts Eitleres und Unbeständigeres auf Erden, als der Mensch ist; solang ihn die Götter begünstigen, meint er, die Zukunft könne ihm nichts Böses bringen; und wenn nun das Traurige kommt, so findet er keinen Mut in sich, es zu ertragen. Ich selbst habe das erfahren und habe, im Vertrauen auf meine Jugendstärke, in glücklichen Tagen auch manches getan, was ich nicht hätte sollen. Drum warne ich einen jeden, im Übermute nicht zu freveln, und rate ihm, die Gaben der Götter in Demut zu empfangen. So ist es auch nicht klug, daß die Freier sich jetzt so trotzig gebärden und der Gattin des Mannes so viel Schmach antun, der schwerlich lange mehr von seiner Heimat entfernt, der vielleicht so nahe ist! Möge dich, Amphinomos, ein guter Dämon aus dem Haus hinwegführen, ehe du jenem begegnest!« So sprach Odysseus, goß eine Spende aus, trank und gab dann den Becher dem Jüngling zurück. Der Freier senkte nachdenklich sein Haupt und schritt betrübt durch den Saal, als ahnete ihm etwas Schlimmes. Dennoch entrann er dem Verhängnis nicht, das ihm Athene bestimmt hatte.
PENELOPE VOR DEN FREIERN
Jetzt legte es Pallas Athene der Königin in die Seele, vor den Freiern zu erscheinen, einem jeden von ihnen sein Herz recht mit Sehnsucht zu erfüllen und sich durch ihr Betragen vor dem Gemahl, dessen Gegenwart sie freilich noch nicht ahnte, und vor ihrem Sohne Telemach im vollen Glanz ihrer Seelenhoheit und ihrer Treue zu zeigen. Die alte vertraute Schaffnerin billigte ihren Entschluß: »Geh nur, Tochter«, sprach sie, »und berate deinen Sohn mit einem Worte zur rechten Zeit: aber nicht so, wie du jetzt bist, deine schönen Wangen von Tränen entstellt, mußt du hinuntergehen; sondern bade und salbe dich zuvor, und alsdann zeige dich den Freiern.« Aber Penelope antwortete kopfschüttelnd: »Mute mir das nicht zu, gute Alte; alle Lust, mich zu schmücken, ist mir vergangen, seit mein Gemahl mit seinen Schiffen gen Troja fuhr.
Aber rufe mir meine Dienerinnen Autonoe und Hippodameia, daß sie im Saale mir zur Seite stehen; denn unbegleitet zu den Männern hinabzugehen, verbietet mir ja die Scham.«
Während Eurynome die Schaffnerin mit diesem Auftrage sich entfernte, versenkte Athene die Gattin des Odysseus auf Augenblicke in einen süßen Schlummer, daß sie sich sanft in ihrem Sessel streckte, und verlieh ihr die Gaben überirdischer Schönheit; das Gesicht wusch sie ihr mit Ambrosia, womit sich Aphrodite zu salben pflegt, wenn sie mit den Charitinnen den Reigen führen will; ihren Wuchs machte sie höher und voller; ihre Haut ließ sie wie Elfenbein schimmern. Dann verschwand die Göttin wieder; die beiden Mägde kamen mit Geräusch hereingeeilt, Penelope erwachte aus ihrem Schlummer, rieb sich die Augen und sprach: »Ei wie sanft habe ich geschlafen, möchten mir die Götter nur auf der Stelle einen so sanften Tod senden, daß ich mich nicht länger um meinen Gemahl härmen und im Hause Kummer ausstehen müßte!«
Mit diesen Worten erhub sie sich aus dem Sessel und stieg aus den obern Gemächern des Palastes zu den Freiern hinab. Dort stand sie in der Pforte des gewölbten Saales still, die Wangen mit dem Schleier umhüllt, in jugendlicher Schönheit; zu beiden Seiten stand sittsamlich eine Dienerin. Als die Freier sie sahen, schlug ihnen allen das Herz im Leibe, und jeder wünschte und gelobte sich, sie als Gattin heimzuführen. Die Königin aber wandte sich an ihren Sohn und sprach: »Telemach, ich erkenne dich nicht; fürwahr, schon als Knabe zeigtest du mehr Verstand denn jetzt, wo du groß und schön, wie der Sohn des edelsten Mannes vor 320
Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
mir stehst! Welche Tat hast du soeben im Saale begehen lassen? Hast geduldet, daß ein armer Fremdling, der in unserer Behausung Ruhe suchte, aufs unwürdigste gekränkt worden ist? Das muß uns ja vor allen Menschen Schande bringen!«
»Ich verarge dir deinen Eifer nicht, gute Mutter«, erwiderte hierauf Telemach; »auch fehlt es mir nicht an der Erkenntnis des Rechten; aber diese feindseligen Männer, die um mich her sitzen, betäuben mich ganz, und nirgends finde ich
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