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Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gustav Schwab
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stille, Sohn«, antwortete ihm Odysseus, »und forsche nicht; das ist so der Brauch der Unsterblichen. Lege dich jetzt schlafen; ich selbst will noch ein weniges aufbleiben und Mutter und Dienerinnen auf die Probe stellen.«
    Telemach entfernte sich, und Penelope trat jetzt aus ihrer Kammer, schön wie Artemis und Aphrodite.
    Sie stellte sich ihren eigenen, köstlich mit Silber und Elfenbein ausgelegten Sessel zum Feuer und setzte sich auf den Schafspelz, der ihn bedeckte. Dann kam eine Schar von Mägden, die räumten Brot und Becher von den Tischen, stellten diese selbst beiseite und sorgten aufs neue für Beleuchtung und Heizung des Saales in den Geschirren. Hier geschah es, daß Melantho den Odysseus zum zweiten Male höhnte. »Fremdling«, sagte sie, »du wirst doch nicht die Nacht über dableiben und im Palaste herumlungern wollen? Begnüge dich mit dem Genossen und geh auf der Stelle aus der Türe hinaus, wenn nicht dieser Feuerbrand dir nachfliegen soll!« Odysseus schaute sie finster an und entgegnete: »Unbegreifliche, warum bist du so erbittert auf mich, weil ich in Lumpen gehe und bettle? Ist das nicht das gemeinsame Schicksal aller Umherirrenden? Einst war auch ich glücklich, wohnte im reichen Hause, gab dem wandernden Fremdling, wie auch sein Aussehen sein mochte, was er bedurfte. Auch Diener und Dienerinnen hatte ich genug; doch das alles hat mir Zeus genommen. Bedenke, Weib, daß es dir auch so gehen könnte; wie, wenn die Fürstin einmal dir ernstlich 322
    Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
    zürnete? wenn gar Odysseus heimkäme? Noch ist die Hoffnung dazu nicht ganz verschwunden! Oder wenn Telemach, der kein Kind mehr ist, an seiner Stelle handelte?«
    Penelope hörte, was der Bettler sprach, und schalt die übermütige Dienerin: »Schamloses Weib, ich kenne deine schlechte Seele wohl und weiß, was du tust; du sollst es mir mit deinem Kopfe büßen! Hast du doch selbst von mir gehört, daß ich den Fremdling ehre und ihn in meinen eigenen Gemächern über den Gemahl befragen will, und dennoch wagst du's, denselben zu verhöhnen!« Melantho schlich eingeschüchtert davon, die Schaffnerin mußte dem Bettler einen Stuhl hinstellen, und nun begann Penelope das Gespräch: »Vor allen Dingen, Fremdling«, sagte sie, »nenne mir dein Haus und Geschlecht.« »Königin«, antwortete Odysseus, »du bist eine untadelhafte Frau, auch deines Gatten Ruhm ist groß; dein Volk, dein Land hat ein gutes Lob. Du aber frage mich nach allem, nur nicht nach meinem Geschlecht und nach meiner Heimat, ich habe zu viel Weh erduldet, als daß ich daran erinnert werden dürfte. Wenn ich es aufzählen sollte, so müßte ich trostlos klagen und würde von den Dienerinnen oder gar von dir selber mit Recht gescholten.« Hierauf fuhr Penelope fort: »Du siehest, Fremdling, daß es auch mir nicht besser ergangen ist, seit mein geliebter Gemahl mich verlassen hat. Du kannst die Männer selbst zählen, die um mich werben und mich bedrängen und denen ich seit drei Jahren durch eine List entgangen bin, die ich jetzt nicht mehr fortsetzen kann.« Damit erzählte sie ihm von ihrem Gewebe und wie der Betrug durch die Mägde entdeckt worden war. »Hinfort kann ich«, endete sie, »der Vermählung nicht mehr ausweichen; meine Eltern drängen mich, mein Sohn zürnt über die Verschwendung seines Erbguts. So siehst du, wie es mir ergeht. Nun wohlan, verschweige mir auch dein Geschlecht nicht, Mann; du bist doch nicht der fabelhaften Eiche oder dem Felsen entsprossen!«
    »Wenn du mich nötigest«, erwiderte Odysseus, »so will ich es dir wohl sagen.« Und nun fing der Schalk an, sein altes Lügenmärchen von Kreta zu erzählen. Dieses sah der Wahrheit so ähnlich, daß Penelope in Tränen zerfloß und es den Odysseus im innersten Herzen erbarmte. Dennoch standen ihm die Augensterne wie Horn oder Eisen unbeweglich unter den Augenlidern, und er war besonnen genug, die Tränen zurückzuhalten. Als die Königin lange genug geweint, begann sie von neuem: »Jetzt muß ich doch auch ein wenig prüfen, Fremdling, ob es wirklich wahr ist, wie du erzählest, daß du meinen Gemahl in deinem Hause bewirtet hast. Sage mir doch, welches Gewand er trug, wie er aussah, wie sein Gefolge war.« »Du verlangst etwas Schweres nach so langer Trennung«, erwiderte Odysseus, »denn es geht nun ins zwanzigste Jahr, daß der Held bei uns auf Kreta landete. Doch soviel ich mich erinnere, war sein Kleid zwiefach, purpurn, von langer Wolle, eine goldene

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