Sagen des klassischen Altertums
und als Odysseus auf seinem Rückwege zu der Schwelle eben an ihm vorüberging und auch ihn noch um eine Gabe anflehte, wobei er von langen Bettlerfahrten durch Ägypten und Zypern ihm vorjammerte, rief dieser unwillig: »Welch ein Dämon hat uns diesen zudringlichen Schmarotzer gesandt! Weiche von meinem Tisch, daß ich dir dein Ägypten und Zypern nicht gesegne!« Und als Odysseus murrend sich zurückzog, warf ihm Antinoos den Fußschemel nach, daß dieser ihm rechts auf die Schulter flog, dicht ans Halsgelenk. Odysseus stand unverrückt wie ein Fels und schüttelte schweigend sein Haupt, voll von Entwürfen. Dann kehrte er zur Schwelle zurück, legte den mit Gaben gefüllten Ranzen zu Boden und klagte niedersitzend den Freiern die Kränkung, die ihm Antinoos angetan. Dieser aber rief dem Bettler zu: »Schweige und friß, du Fremdling, oder packe dich, sonst zieht man dich an Hand und Fuß über die Schwelle, daß dir die Glieder bluten!«
Diese Roheit empörte selbst die Freier; einer aus ihnen erhub sich und sprach: »Antinoos, du hast nicht wohl daran getan, den Unglücklichen zu werfen. Wie nun, wenn es ein Himmelsbote wäre, der Menschengestalt angenommen? Denn solches geschieht ja manchmal!« Aber Antinoos achtete nicht auf diese Warnung. Telemach selbst sah schweigend die Mißhandlung seines Vaters und drängte seinen Ingrimm in den Busen zurück.
In ihrem Frauengemache konnte Penelope durch die offenen Fenster alles vernehmen, was im Saale geschah. So hörte sie auch, wie es dem Bettler dort erging, und empfand Mitleiden mit ihm. Sie ließ in der Stille den Sauhirten zu sich hereinrufen und befahl ihm, jenen kommen zu heißen. »Vielleicht«, setzte sie hinzu, »weiß er mir etwas von meinem Gemahl zu berichten oder hat ihn gar selbst gesehen, denn er scheint 318
Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
weit in der Welt umhergewandert zu sein.« »Ja«, antwortete Eumaios, »wenn die Freier schweigen und hören möchten, er könnte vieles erzählen. Drei Tage schon beherberge ich ihn, und seine Berichte entzückten mein Herz, als wären sie das Lied eines Sängers. Er ist von Kreta und mit deinem Gemahl, wie er behauptet, durch väterliches Gastrecht verbunden. Und so will er denn auch wissen, daß Odysseus gegenwärtig im Lande der Thesproter lebe und nächstens mit vielem Gute heimkehren werde.« »Geh«, sagte Penelope bewegt, »rufe den Fremdling herbei, daß er mir erzähle! Diese üppigen Freier! Es fehlt uns nur ein Mann, wie Odysseus war; käme dieser, so würden er und Telemach den Trotzigen bald vergelten!«
Als sie so sprach, nieste eben Telemach im Saale so laut, daß das Gewölbe widerhallte. Penelope mußte lächeln und sprach zum Sauhirten: »Hörst du, wie mein Sohn mir zuniest, ist das nicht eine gute Vorbedeutung? Rufe mir geschwind den Fremdling herbei!«
Eumaios meldete dem Bettler den Befehl Penelopes, dieser aber erwiderte: »Wie gerne möchte ich der Königin erzählen, was ich von Odysseus weiß; und ich weiß viel von ihm; aber das Betragen der Freier flößt mir Besorgnis ein. Eben jetzt, wo ich durch den Wurf des bösen Mannes dort so schwer gekränkt worden bin, hat sich weder Telemach noch ein anderer meiner angenommen. Darum soll Penelope für jetzt ihr Verlangen bewältigen, bis die Sonne untergegangen ist, dann soll sie mich an ihren Herd sitzen lassen, denn mich friert in meinen Lumpen: so will ich ihr alles mögliche erzählen.« So begierig Penelope auf den Fremdling war, so konnte sie seinen Gründen doch nicht unrecht geben und beschloß, sich zu gedulden.
Eumaios kehrte unter das Gewühl der Freier zurück und flüsterte seinem jungen Herrn ins Ohr: »Ich will mich jetzt wieder nach meinem Gehege aufmachen, Herr; sorge du hier für das Nötige, zumal aber für dich selbst, und sei vor jeder Gefahr auf der Hut, welche von seiten der arglistigen Freier dich bedrohen könnte.«
Auf die Bitte Telemachs verweilte jedoch der Sauhirt noch bei Tische, bis es Abend geworden war; dann brach er auf und versprach, am frühen Morgen mit auserlesenen Schweinen wiederzukommen.
ODYSSEUS UND DER BETTLER IROS
Die Freier waren noch immer beisammen, als ein berüchtigter Bettler aus der Stadt in den Saal trat, ein ungeheurer Vielfraß, groß von Gestalt, aber ohne alle Leibeskraft; von Haus aus hieß er Arnaios, aber die Jugend der Stadt nannte ihn mit einem Unnamen, Iros, was einen Boten bezeichnete, denn er pflegte um Lohn Botendienste zu tun. Die Eifersucht führte
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