Sagen des klassischen Altertums
Strick oder Gift soll mich vom verhaßten Leben befreien. – Aber wird mich dieses retten, wird mich nicht üble Nachrede durchs ganze Kolcherland verfolgen und sagen, daß ich mein Haus beschimpft habe, daß ich einem fremden Manne zulieb gestorben sei?‹ Unter solchen Gedanken ging sie, ein Kästchen zu holen, in welchem heil- und todbringende Arzneien sich befanden. Sie stellte es auf ihre Knie und hatte es schon geöffnet, um von den tödlichen Giften zu kosten; da schwebten ihr alle holden Lebenssorgen vor, alle Lebensfreuden, alle Gespielinnen; die Sonne kam ihr schöner vor als vorher, eine unwiderstehliche Furcht vor dem Tode ergriff sie; sie stellte das Kästchen auf den Boden. Hera, die Beschützerin Iasons, hatte ihr Herz verwandelt. Kaum 40
Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
konnte sie die Morgenröte erwarten, um die versprochenen Zaubermittel zu holen und mit ihnen vor den geliebten Helden zu treten.
IASON UND MEDEA
Während Argos mit der glücklichen Nachricht zu dem Schiffe der Helden eilte, als kaum das Morgenrot den Himmel erhellte, war die Jungfrau schon vom Lager aufgesprungen, band ihr blondes Haar auf, das bisher in Trauerflechten heruntergehangen, wischte Tränen und Harm von den Wangen und salbte sich mit köstlichem Nektaröl. Sie zog ein herrliches Gewand an, das schön gekrümmte, goldne Nadeln festhielten, und warf einen weißen Schleier über ihr strahlendes Haupt. Alle Schmerzen waren vergessen; mit leichten Füßen durcheilte sie das Haus und befahl ihren jungen Dienerinnen, deren zwölfe in ihren Frauengemächern waren, schnell die Maultiere an den Wagen zu spannen, der sie nach dem Tempel der Hekate bringen sollte. Inzwischen holte Medea aus dem Kästchen die Salbe hervor, die man Prometheusöl nannte; wer, nachdem er die Göttin der Unterwelt angefleht, seinen Leib damit salbte, konnte an jenem Tage von keinem Schwertstreiche verwundet, von keinem Feuer versehrt werden, ja er war den ganzen Tag an Kräften jedem Gegner überlegen. Die Salbe war von dem schwarzen Saft einer Wurzel bereitet, die aus dem Blute emporgekeimt war, das von der zerfressenen Leber des Titanensohnes auf die Heiden des Kaukasus geträufelt war. Medea selbst hatte in einer Muschel den Saft dieser Pflanze als kostbares Heilmittel aufgefangen.
Der Wagen war gerüstet; zwei Mägde bestiegen ihn mit der Herrin, sie selbst ergriff Zügel und Peitsche und fuhr, von den übrigen Dienerinnen zu Fuße begleitet, durch die Stadt. Überall wich der Königstochter das Volk ehrerbietig aus dem Wege. Als sie durchs freie Feld am Tempel angekommen war, flog sie mit gewandtem Sprunge vom Wagen und sprach zu ihren Mägden mit listigen, verstellten Worten:
»Freundinnen, ich habe wohl schwer gesündigt, daß ich nicht ferne von den Fremdlingen geblieben bin, die in unserm Lande angekommen sind! Nun verlangt gar meine Schwester und ihr Sohn Argos, ich soll Geschenke von ihrem Führer annehmen, der die Stiere zu bändigen versprochen hat, und ihn mit Zaubermitteln unverwundlich machen! Ich aber habe zum Scheine zugesagt und ihn hierher in den Tempel bestellt, wo ich ihn allein sprechen soll. Da will ich die Geschenke nehmen, und wir wollen sie nachher untereinander verteilen. Ihm selbst aber werde ich eine verderbliche Arznei reichen, damit er um so gewisser zugrunde geht! Entfernet euch indessen, sobald er kommt, damit er keinen Verdacht schöpfe und ich ihn allein empfangen kann, wie ich verheißen habe.« Den Mägden gefiel der schlaue Plan. Während diese im Tempel verweilten, machte sich Argos mit seinem Freunde Iason und dem Vogelschauer Mopsos auf. So schön war kein Sterblicher, ja keiner der Göttersöhne zuvor je gewesen, wie heute des Zeus Gemahlin ihren Schützling Iason mit allen Gaben der Huldgöttinnen ausgerüstet hatte. Seine beiden Genossen selbst, sooft sie ihn unterwegs betrachteten, mußten über seine Herrlichkeit staunen. Medea war unterdessen mit ihren Mägden im Tempel, und obwohl sie sich die Zeit mit Singen verkürzten, so war doch der Fürstin Geist in ganz andern Gedanken; und kein Lied wollte ihr lange gefallen. Ihre Augen weilten nicht im Kreise ihrer Dienerinnen, sondern schweiften durch die Tempelpforte verlangend über die Straße hinaus. Bei jedem Fußtritt oder Windhauch richtete sich ihr Haupt begierig in die Höhe. Nicht lange, so trat Iason mit seinen Begleitern in den Tempel, hoch einherschreitend und schön, wie Sirius dem Ozean entsteigt. Da war's der Jungfrau, als
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